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3. Die Blütezeit der griechischen Kultur.
Bitten seines Sohnes Hämon, des Verlobten der Jungfrau, gleichgültig gegen die
Stimme des Volkes, läßt er das Mädchen lebendig in einer Grabkammer einmauern,
in der sie sich voller Verzweiflung erhängt. Zu spät bereut er seinen Starrsinn.
Hämon und seine Gattin geben sich selbst den Tod. Mit der Mahnung des Chores,
nie in Vermessenheit gegen die Gesetze der Götter zu sündigen, schließt die ergreifende
Tragödie. Bei dem Volke fand das Stück solchen Beifall, daß es den Verfasser, ob-
wohl er keine militärische Begabung besaß, zum Feldherrn wählte.
Bei Euripides (480—406) macht sich schon ein Rückschritt bemerkbar. Der
Dichter versteht es nicht, das Drama so aufzubauen, daß sich die Handlung aus sich
heraus entwickelt. Um den Knoten zu lösen, muß er fast in jeder Tragödie durch die
Theatermaschine einen Gott auf die Bühne bringen (deus ex machina), der dem Stücke
den gewünschten Schluß gibt. Die Chorlieder scheint er nur, weil das Publikum daran
gewöhnt war, beibehalten zu haben, da sie für den Gang der Handlung ganz über-
flüssig sind und bloß zur Ausfüllung der Pausen zwischen den einzelnen Aufzügen
dienen. Es fehlt dem Dichter ferner die ideale Weltanschauung und Tiefe der reli-
giöfen Überzeugung eines Äfchylus. Er gefällt fid) in der Rolle eines Apostels seichter
Aufklärung und benutzt das Theater, um den Unglauben in der Menge zu verbreiten.
Dadurch verlieren seine Personen an Würde, uud das Göttliche wird ins Lächerliche
und Gemeine herabgezogen. Von einer seiner Tragödien wissen wir sogar, daß sie
die Stelle eines Satyrspiels vertrat. Dagegen zeigt sich der „Philosoph der Bühne"
als vorzüglicher Kenner der menschlichen Natur und weiß die seelischen Vorgänge
meisterhaft zu schildern. Besonders gelingt ihm die Zeichnung leidenschaftlicher
Erregungen, weshalb er auch der „tragischste" Dichter genannt wird. Dabei kommt
ihm seine Sprachgewalt, die ihn in gleicher Weise vor Schwulst wie vor Plattheiten
bewahrt, sehr zustatten. Die Preisrichter konnten ihm wenig Geschmack abgewinnen.
Dagegen die Menge schwärmte für seine Tragödien, und die rührendsten Szenen
waren in aller Munde. Unter den 20 erhaltenen Stücken sind „Medea", „Iphigenie
in Tauris" und „die Phönizierinnen" die bedeutendsten. Medea, die zauberkundige
Tochter des Königs von Kolchis, faßt innige Liebe zu Jason, dem Führer der Argo¬
nauten, hilft ihm das goldene Vlies erringen und folgt ihm, Heimat und Familie
verlassend, als Gattin nach Griechenland. Jahrelang lebt sie in glücklicher Ehe. Da
wird sie von ihrem Manne verstoßen, der durch eine neue Heirat die Krone Korinths
zu gewinnen hofft. Mit erheuchelter Entsagung ergibt sie sich scheinbar in ihr Geschick.
Aber rasende Eifersucht auf die Nebenbuhlerin, wilder Haß gegen den treulosen
Gemahl treibt sie zu teuflischer Rache. Durch vergiftete Brautgeschenke tötet sie die
korinthische Königstochter und deren Vater. Dann mordet sie, wenn and) mit bluten-
dem Herzen, die eigenen, von Jason zärtlich geliebten Kinder und entflieht auf einem
Drachenwagen durch die Luft nach Attika. Der unheimliche Charakter des dämoni-
fchen Weibes ist wunderbar getroffen. Der wesentliche Inhalt der „Iphigenie" ist
aus dem gleichnamigen Drama Goethes bekannt. Dod) ist unser Dichter in mehreren
Punkten von der antiken Vorlage abgewichen. Eine seiner besten Änderungen be-
steht darin, daß er auf den deus ex machina verzichtet. Denn bei Euripides droht
Iphigenie, Orest und Pylades der Tod; da erscheint Athene und bewirkt, daß Thoas
sie in Frieden ziehen läßt. „Die Phönizierinnen" stimmen im allgemeinen mit „den
Sieben gegen Theben" des Äschylus überein. Aber an Erfindungsgabe und Dar-
stellnngstalent zeigt sich Euripides dem alten Meister weit überlegen.
Von den späteren Tragikern besitzen wir nur einige Brud)stücke. Wir können
den Verlust verschmerzen. Denn während die Theater immer mehr an Pracht