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15. Das Mittelalter als Grundlage der Neuzeit.
heute noch kursfähigen Schlagworte „mittelalterliche Zustände" die Entstehung ge-
geben. Wollte man das Wort in gerade entgegengesetztem Sinne kräftigen Wachsens
und Werdens, nie ermüdender, schaffensfroher Tätigkeit verstehen, man würde der
Wahrheit sehr viel näher kommen. Denn wenn es irgendeine Zeit gegeben hat, die
reich war an Neubildungen auf fast allen Gebieten, in Staat und Kirche, in Recht
und Wirtschaft, in ständischer Gliederung und geistigem Leben, so war es das Mittel-
alter, und zwar an Neubildungen, die auf lange hinaus bestimmend wurden für den
Gang der Geschichte. Renaissance, Humanismus, Reformation, die weiten Pforten,
durch die die Neuzeit ihren Einzug hielt, haben ihre Wurzeln tief im Mittelalter, sind
ohne dieses gar nicht denkbar, sind seine Frucht.
Daß die Renaissance ihren Namen, soweit er belegen soll, daß ihr Inhalt in der
Wiederbelebung des klassischen Altertums zu suchen sei, zu Unrecht erhalten hat,
darüber kann heute kein Zweifel mehr bestehen. Sie ruht auf mittelalterlichem Boden,
in jener Kultur, die in Dante ihren höchsten dichterischen Ausdruck gefunden hat,
und mit der Hinwendung zur Antike betritt sie ein weiteres — wenn man will, das
fruchtbarste — jener Gebiete, die noch die mittelalterliche Welt in ihrem Bildungs-
dränge dem menschlichen Geiste eroberte.
Kennzeichnend aber für mittelalterliche Geistesrichtung ist das echt germanische
Prinzip der Einzelgeltung, des Sonder- und Minderheitsrechts gegen Gesamtheit
und Mehrheit. Das mittelalterliche Leben scheidet den Begriff des Gehorsams gleich-
sam aus; Unbotmäßigkeit ist nicht mit dem sittlichen Makel behaftet, den ihr römische
und moderne Auffassung beigelegt haben.
Wenn dieser Geist Quelle einer schier unerschöpflichen Tatkraft wurde, so ist ander-
seits verständlich, daß er die Bildung größerer, leistungsfähiger Staatswesen, wie
überhaupt jede umfassendere und festere Organisation außerordentlich erschwerte.
Die Stammesreiche, die zunächst die politischen Nachfolger der Römer wurden, sahen
sich alsbald den heftigsten innern Zerwürfnissen ausgesetzt. Nur ganz besonders
kräftige Naturen, wie sie in Karl Martell, Pipin und Karl dem Großen das Karo-
lingische Haus in beispielloser Aufeinanderfolge durch drei Generationen hervorge-
bracht hat, vermochten dem Einheitsgedanken gegenüber den Sondergelüsten zeit¬
weilig zum Siege zu verhelfen. Im 9. Jahrhundert setzte sich dann die Staatenglie-
deruug durch, die in ihren Hauptzügen eine dauernde bleiben sollte.
Aber nur das Deutsche (Ostfränkische) Reich überstand rasch die Gefahr weitern
Zerfalles. Die beiden ersten sächsischen Könige wurden die Begründer seiner Einheit
und werden mit Recht als solche gepriesen; Frankreich hatte noch Jahrhunderte
um seinen Bestand als Einheitsstaat zu kämpfen. Otto I. vermochte die italienische
Krone zu gewinnen und das römische Kaisertum zu beleben. Ms Konrad II. noch
Burgund erworben hatte, war der Herrscher der Deutschen Herr von Mitteleuropa,
von der Rhone bis zur Oder und von den Rheinmündungen bis in die Berge der
Abruzzen.
Der Gedanke des Römischen Reiches schien wieder reale Macht zu gewinnen, wie
einst in den Tagen Karls des Großen. Aber aus dem hilfesuchenden Oberhaupt der
Kirche, das dem Frankenkönige die Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt hatte, war, wesent¬
lich unter dem Schutze dieser Krone, ein starker Mitbewerber geworden. Kirchlicher
Geist hatte sich so tief in die Gemüter gesenkt, daß nichts andres der Zeit-dauerndes
Heil zu sichern schien als die Leitung der Welt durch die Kirche.
So trat der Papst an die Stelle des Kaisers; in ihm verkörperte sich die Einheit
der Christenheit, nicht mehr in einem weltlichen Herrn. Es war die letzte Konsequenz