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gaben den Spöttern ein leichtes Spiel. Man erlaubte sich alles, per-
sönliche Angriffe, die burleskesten Witzspiele, die rücksichtslosesten Ausfälle.
Alle verschiedenen Elemente dieser gährenden Gesellschaft vereinigten sich
und lieferten dem Genie eines großen Dichters den Stoff zu einem sati.
ri>chen Werke, welches in den groteskesten Erfindungen einer kühnen rind
fruchtbaren Einbildungskraft alle Thorheiten und Wunderlichkeiten des
Jahrhrindertß schildert. Franz Rabelais (1483 —1553) war der Sohn
eines Apothekers und erhielt eine gelehrte Bildung. Ec wurde Franzis¬
karrer, seirr Wiffen und sein Geist machten ihm aber bald mit dem Neide
und der plumpen Rohheit der arrdern Mönche zu schaffen. Er trat in
den Benediktiner-Orden, dessen Regel die freiste ist. Auch ben leichteren
Zwang ertrug sein Hang zur Ungebundenheit und zu übermüthiger Fröh¬
lichkeit nicht. Rabelais wurde zuin großen Aergerniß der Kirche Welt¬
geistlicher, streifte lange in der Welt umher nnb ließ sich endlich in
Montpellier nieder, um Medicin zu studiren. Er erlangte alle akademi¬
schen Würden und erwarb sich durch einige Abhandlungen über Hippo-
krateß und durch Geschicklichkeit in der Ausübung seiner Kunst einen
großen Ruf. Der Kardinal du Betlay nahm ihn mit nach Rom, und
hier wurde Rabelais durch seine geistreichen Einfälle und burlesken Späße
bald so bekannt, wie ec es bereits in Frankreich gewesen war. Bald
erinnerte man sich aber im Vatikan an seine Händel mit den Franzis¬
kanern und Benediktinern, an die Freimüthigkeit seiner Epigramme und
die Ausschweifungen seines lockeren Lebens, und Rabelais entwich dem
Urtheilsspruch durch heimliche Flucht nach Lyon. Hier geht ihm das
Geld aus unb er giebt sich das Ansehen eines Giftmischers, der dem
Könige und der Königin nach dem Leben trachtet. Die List gelingt.
Man transportirt Rabelais nach Paris, und hier verschluckt ec das bischen
Asche, mit dem er seine Gifcpäcktchen gefüllt hat, und die Geschichte
endigt mit Lachen und Trinken. Als der Kardinal du Bellay von Rom
zurückgekehrt war, gab er Rabelais die Pfarrei zu Meudon und ge¬
brauchte ihn als Arzt und Possenreißer.
Rabelais war ein Mann von Geist und ganz ungewöhnlichen Kennt¬
nissen, er hatte die Welt gesehen, scheute weder Gott noch Menschen,
war der Sprache im hohen Grade mächtig und war somit der rechte
Mann, um alles, was die Menschen seiner Zeit ernsthaft thaten und
litten, von der komischen Seite zu schildern. Der Roman, ^welcher
seinen Namen unsterblich gemacht hat, ist die Geschichte des Riesen
Gargantua und seines Sohnes Pantagruel. Rabelais schildert
die Sitten seines Jahrhunderts und verbirgt unter burlesken und oft
höchst cynischen Karrikaturen die feinste Beobachtung und die bitterste
Satire. Er verschont kein Laster, keine Thorheit, keine Geschmacklosigkeit
seiner Zeitgenossen. Ec geißelt die Unsittlichkeit und Einsalt des Klerus,
die Pedanterie der Gelehrten, die Bestechlichkeit der Richter, die Unge¬
schicklichkeit der Aerzte. Die Franzosen nennen Rabelais den größten
Philosophen unter ben Possenreißern und den an drolligen Einfällen
reichsten Philosophen. Sie betrachten Gargantua und Pantagruel als
eine unerschöpfliche Quelle des Witzes und der durch ihre spätere Hof-
Literatur ganz verschwundenen Natürlichkeit und Freimüthigkeit. Wäh¬
rend die deutschen Schriftsteller Luthers Bibelübersetzung als Quelle des
Reichthums ihrer Sprache und als Muster des Tones ansahen, in welchem