Full text: Geschichte der neueren und neuesten Zeit (Theil 3)

204 
gaben den Spöttern ein leichtes Spiel. Man erlaubte sich alles, per- 
sönliche Angriffe, die burleskesten Witzspiele, die rücksichtslosesten Ausfälle. 
Alle verschiedenen Elemente dieser gährenden Gesellschaft vereinigten sich 
und lieferten dem Genie eines großen Dichters den Stoff zu einem sati. 
ri>chen Werke, welches in den groteskesten Erfindungen einer kühnen rind 
fruchtbaren Einbildungskraft alle Thorheiten und Wunderlichkeiten des 
Jahrhrindertß schildert. Franz Rabelais (1483 —1553) war der Sohn 
eines Apothekers und erhielt eine gelehrte Bildung. Ec wurde Franzis¬ 
karrer, seirr Wiffen und sein Geist machten ihm aber bald mit dem Neide 
und der plumpen Rohheit der arrdern Mönche zu schaffen. Er trat in 
den Benediktiner-Orden, dessen Regel die freiste ist. Auch ben leichteren 
Zwang ertrug sein Hang zur Ungebundenheit und zu übermüthiger Fröh¬ 
lichkeit nicht. Rabelais wurde zuin großen Aergerniß der Kirche Welt¬ 
geistlicher, streifte lange in der Welt umher nnb ließ sich endlich in 
Montpellier nieder, um Medicin zu studiren. Er erlangte alle akademi¬ 
schen Würden und erwarb sich durch einige Abhandlungen über Hippo- 
krateß und durch Geschicklichkeit in der Ausübung seiner Kunst einen 
großen Ruf. Der Kardinal du Betlay nahm ihn mit nach Rom, und 
hier wurde Rabelais durch seine geistreichen Einfälle und burlesken Späße 
bald so bekannt, wie ec es bereits in Frankreich gewesen war. Bald 
erinnerte man sich aber im Vatikan an seine Händel mit den Franzis¬ 
kanern und Benediktinern, an die Freimüthigkeit seiner Epigramme und 
die Ausschweifungen seines lockeren Lebens, und Rabelais entwich dem 
Urtheilsspruch durch heimliche Flucht nach Lyon. Hier geht ihm das 
Geld aus unb er giebt sich das Ansehen eines Giftmischers, der dem 
Könige und der Königin nach dem Leben trachtet. Die List gelingt. 
Man transportirt Rabelais nach Paris, und hier verschluckt ec das bischen 
Asche, mit dem er seine Gifcpäcktchen gefüllt hat, und die Geschichte 
endigt mit Lachen und Trinken. Als der Kardinal du Bellay von Rom 
zurückgekehrt war, gab er Rabelais die Pfarrei zu Meudon und ge¬ 
brauchte ihn als Arzt und Possenreißer. 
Rabelais war ein Mann von Geist und ganz ungewöhnlichen Kennt¬ 
nissen, er hatte die Welt gesehen, scheute weder Gott noch Menschen, 
war der Sprache im hohen Grade mächtig und war somit der rechte 
Mann, um alles, was die Menschen seiner Zeit ernsthaft thaten und 
litten, von der komischen Seite zu schildern. Der Roman, ^welcher 
seinen Namen unsterblich gemacht hat, ist die Geschichte des Riesen 
Gargantua und seines Sohnes Pantagruel. Rabelais schildert 
die Sitten seines Jahrhunderts und verbirgt unter burlesken und oft 
höchst cynischen Karrikaturen die feinste Beobachtung und die bitterste 
Satire. Er verschont kein Laster, keine Thorheit, keine Geschmacklosigkeit 
seiner Zeitgenossen. Ec geißelt die Unsittlichkeit und Einsalt des Klerus, 
die Pedanterie der Gelehrten, die Bestechlichkeit der Richter, die Unge¬ 
schicklichkeit der Aerzte. Die Franzosen nennen Rabelais den größten 
Philosophen unter ben Possenreißern und den an drolligen Einfällen 
reichsten Philosophen. Sie betrachten Gargantua und Pantagruel als 
eine unerschöpfliche Quelle des Witzes und der durch ihre spätere Hof- 
Literatur ganz verschwundenen Natürlichkeit und Freimüthigkeit. Wäh¬ 
rend die deutschen Schriftsteller Luthers Bibelübersetzung als Quelle des 
Reichthums ihrer Sprache und als Muster des Tones ansahen, in welchem
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.