9. Vorgeschichtliche Wandrungen,
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Schiffahrt vertraut. Er floß damals noch in das Kaspische Meer, denn erst die später
hier eingetretenen merkwürdigen Bodenveränderungen haben ihn von seinem natür-
lichen Lauf abgelenkt und ganz in den Aralsee geleitet. Die Wohnsitze lehnten sich
also zum Teil an die Gebirge an, während den westlichen Stämmen die Ebenen bis
zum Kaspischen Meere offen standen. Das alte Flußbett des Oxus zeigte den Weg
nach Europa.
Es ist wahrscheinlich, daß das UrVolk schon in seiner alten Heimat sich in ver-
schiedene Stämme gespalten hat und diese Stämme ziemlich in derselben Ordnung
und Folge beieinanderwohnten, in der sie später sich ausgebreitet haben und ge-
wandert sind. Der Kreis, der ursprünglich ein kleiner und enger war, hat sich allmählich
erweitert und infolge der Wandrungen ins Ungemessene ausgedehnt. Denken wir
uns die Völker um einen Mittelpunkt gelagert, so haben die iranischen Stämme
im Nordosten, die altindifchen im Südosten gewohnt. Den Südwesten nahmen die
spätem griechischen und italischen Stämme ein, den Nordwesten die germanischen
und slawischen, zwischen beiden den äußersten Westen die keltischen. Die Reihen-
folge der Völker ist also kreisförmig oder elliptisch gedacht: Perser, Inder, Griechen,
Jtaler, Kelten, Germanen und Slawen. Die letztem schließen den Kreis und lehnen
sich im Norden wieder an die Perser. Genau in derselben Richtung sind die spätem
Wandrungen erfolgt, und in derselben Ordnung sind auch die Sprachen der Völker
näher oder entfernter miteinander verwandt. Das Slawische, das auf der einen Seite
den deutschen Sprachen am nächsten steht, zeigt auf der andern zugleich persischen
Einfluß, von dem selbst das Gotische, der östlichste Zweig der deutschen Sprache,
nicht ganz frei ist. Inder und Perser zogen nach Süden und Osten (die spätere Aus-
breitung iranischer Stämme nach Westen kann hier unerörtert bleiben), alle andern
Völker nach Westen und Norden, zuerst die gräko-italischen über Kleinasien nach
Griechenland und Italien, dann Kelten, Germanen und Slawen nach dem nörd-
lichen Europa.
Inder und Perser sind am längsten beisammen geblieben und haben sich ver-
mutlich erst getrennt, nachdem ihre Stammesgenossen längst ihre Wandrungen be-
gönnen hatten. Das Urvolk zerfiel also zunächst in eine ostarische und eine westarische
Einheit; zu jener gehören die asiatischen, zu dieser die europäischen Zweige der Völker-
familie. Wir schließen das nicht bloß aus der nahen Verwandtschaft des Altpersischen
oder Zend mit dem Mtindischen oder Sanskrit, sowie aus gewissen sprachlichen Er-
scheinungen, die alle westarischen oder europäischen Sprachen und nur diese mit-
einander gemein haben, sondern vor allem aus der eigentümlichen Teilung des Sprach-
schatzes oder Wortvorrates, wonach viele Worte sich übereinstimmend nur im Zend
und Sanskrit.finden, während andre, die in den westarischen Sprachen vorkommen,
umgekehrt fehlen. Das läßt uns wieder auf eine Verschiedenheit der Entwicklung
schließen, die von dem Augenblick an begann, wo die Trennung eintrat, in ihren
ersten Anfängen vielleicht aber schon vorher vorhanden war. Man glaubt annehmen
zu dürfen, daß die ostarischen Stämme viel länger dem alten halbnomadischen Hirten-
leben treu blieben, die westarischen dagegen schon in ihrer Urheimat sich auch im Acker-
bau und Handwerk versuchten. Einen Rückfall in die alte Nomadenkultur für die
Zeit der spätem Wandmngen schließt das natürlich nicht aus.
So fehlen, um ein paar Beispiele anzuführen, den ostarischen Stämmen die
Namen für den Lein, der in allen europäischen Sprachen übereinstimmend benannt
ist (gr. Uvov, lat. linum, ahd. lin, ähnlich in den keltischen und slawischen Sprachen).
Die westarischen Stämme haben ihn vermutlich schon aus ihrer asiatischen Heimat
Quellenbuch. 4