§ 97. Schlußbetrachtungen.
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welcher das deutsche Volk für lange Zeit lähmte, erscheint die zweite
Periode (bis zur französischen Revolution) wie eine Übergangszeit,
wie eine Vorbereitung zu neuen, großen Aufgaben. Staatliche
Fragen stehen im Vordergrunde; in Deutschland verschiebt sich der
Schwerpunkt vom Süden nach dem Norden. Gegen die zu sittenloser
Willkürherrschaft entartete Fürstengewalt in Frankreich empört sich das
im Volke lebende Bewußtsein der persönlichen Freiheit und Menschen-
würde, und wie die erste, beginnt die dritte Periode der Neuzeit
mit einer großen Umwälzung.
Die staatliche Entwicklung unseres Jahrhunderts wird bestimmt
durch das Streben nach Freiheit und Nationalität. Wie jene
durch den Despotismus, wurde diese von Napoleon I. mit Füßen
getreten und eben dadurch zu neuem Leben erweckt. Viele innere
Kämpfe, viele heftige Kriege sind um diese beiden Güter geführt
worden. In der Zeit von 1864—71 hat insbesondere das deutsche
Volk nach langem, vergeblichem Sehnen ein nationales Reich sich erkämpft.
3. Die Kultur der Gegenwart. Mit berechtigtem Stolze blickt
die Wissenschaft auf die Fortschritte der letzten Jahrzehnte. Sie
gibt Aufschluß über die frühesten Perioden der sagenumhüllten Vorzeit,
und der „dunkle" Erdteil verdient diesen Namen nicht mehr, seit er
von kühnen Forschern in verschiedenen Richtungeu „durchquert" worden
ist; sie untersucht die chemische Zusammensetzung der entferntesten
Himmelskörper und beobachtet das Treiben der kleinsten, dem bloßen
Auge unsichtbaren Lebewesen. Und doch sind wir von einer voll-
ständigen Erkenntnis der Natur sehr weit entfernt. Kennt doch der
Mensch die Natur feines eigenen Körpers so wenig, daß über die
Behandlung der inneren Krankheiten die verschiedensten Ansichten sich
nebeneinander behaupten.
Mehr als jemals hat die Bildnng das ganze Volk durchdrungen.
Durch die Verbreitung und sorgfältige Einrichtung der Schulen,
durch volkstümliche Bücher, Zeitungen uud Zeitschriften, durch Vereine
und Vorträge ist für das Bildungsbedürfnis aller gesorgt. Nicht
„gebildet" zu sein, gilt heute als ein wesentlicher Mangel; freilich
wird oft ein äußerer Schliff, eine gewisse Gewandtheit, sich gebildet
zu geben, höher geschätzt als wahre Bildung.
Jeder, der gebildet sein will, bemüht sich, leider oft ohne ge¬
nügende Grundlage, über die Werke der bildenden Kunst mit-
zusprechen, die durch Museen und Ausstellungen, durch Holzschnitte und
Photographien ebenso sehr Gemeingut geworden sind, wie die Werke
der Tonkunst durch Konzerte und Hausmusik. Fast unübersehbar
ist aus beiden Gebieten die Zahl der schaffenden Künstler. Infolge
Christensen, Kleines Lehrbuch der Geschichte, m. B. 3. Aufl. 6