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Die römischen Götter.
selbst Bestand hatten; änderten sich dieselben oder gingen sie unter, so
änderten sich mit ihnen die göttlichen Wesen oder hörten mit ihnen zu
existieren aus. So hatte jeder Mensch seinen Genius; so wurde die
Greuze zum Terminus, der Wald zum Silvanus, die Treue zur
Fides, der Schrecken zum Pavor oder Pallor u. s. w. — Bei den
Römern tritt auch der praktische Zweck der Religion weit mehr in den
Vordergrund als bei den Hellenen; hatte der Römer alle Verrichtungen
und Leistungen, welche das religiöse Ceremoniell vorschrieb, nach dem
Buchstaben erfüllt, so glaubte er auch seinerseits die Erfüllung seiner
Wünsche, die er an eine Gottheit gestellt hatte, durchaus in Anspruch
nehmen zu dürfen; er stellte sich dem Gotte gegenüber wie ein Gläubiger
dem Schuldner. Eine solche nüchterne Auffassung der Götterwelt, welche
doch nur das irdische und menschliche Leben in einem höheren Grade
wiederspiegelte, konnte weder Künstler noch Dichter begeistern, und so
hatten die Römer mit Ausnahme des doppelköpfigen Janus in der
That kein ihnen eigentümliches Götterbild, keine Heroen^), keine My-
sterien, keine Orakel aufzuweisen.
Diese echt römische Grundanschauung wurde niemals aufgegeben,
selbst als bei der Erweiterung des Staates aus den benachbarten
Landschaften Italiens, später ans Griechenland und selbst aus dem
Orient fremde Kulte massenhaft einwanderten. „Die polytheistischen
Religionen des Altertums waren ihrer Natur nach nicht verschlossen gegen
die Aufnahme fremder Götter. Die Schutzgottheit einer eroberten Stadt,
eines unterworfenen Volkes wurde willig aufgenommen in den Kreis der
nationalen Götter."
§ 104. Die römischen Götter. [Götter.] In ber ältesten Zeit
stand wie bei allen Jtalikem so auch bei den Römern der schwert-
schwingende Mars^) (und sein Doppelgänger Qnirinns) oben an;
er ist der tötende Gott, der die Feinde niederwirft, dem der erste Monat
(März) und der Wolf, das Wahrzeichen der römischen Bürgerschaft, ge¬
heiligt sind. Späterhin steht aber wieder Jupiter (Diovis), der vor¬
nehmste Gott in der gräkoitalischen Zeit, an der Spitze aller Götter; er
ist deum hominumque pater, der reinere und mehr bürgerliche als krie-
gerische Himmelsgott, welcher als Jupiter Latiaris Sd)utzgott des lati¬
nischen Städtebundes war. Seine Gemahlin Juno wird als Beschützerin
des weiblichen Lebens und der Ehe verehrt. Auch Janus und Diana
1) Der den Griechen entnommene Herkules war bei den Römern ein Gott.
2) Andere Formen sind: Maurs, Mavors, mors; auch die uralten Namen Marcus
und Mamercus gehören hierher.