Full text: Erzählungen aus der neuesten Geschichte (1815 - 1881) (Teil 3)

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finden. Die ersten Unruhen entstanden in Kassel in Folge 
einer Brodtheuerung (6. Sept. 1830), nahmen aber bald einen 
politischen Charakter an. In Kassel bewaffnete sich die 
Bürgerschaft, und die Aufregung theilte sich dem ganzen 
Lande mit. Auf das Militär konnte sich der Kurfürst nicht 
unbedingt verlassen. Am 15. September ward er zu dem 
Versprechen genöthigt, die Landstände einzuberufen, was er nie 
gethan hatte. Eine neue Verfassung, die einen bedeutenden 
Fortschritt bildete, ward entworfen, und am 5. Januar 1831 
die Verfassungsurkunde vom Kurfürsten unterzeichnet. Dieser 
zufolge gab es seitdem eine Ständeversammlung, welcher Theil- 
nähme an der Gesetzgebung, der Steuerbewilligung und an 
der Verwaltung der Staatseinnahmen zugesichert ward. Die 
Presse war, mit einigen Beschränkungen in der Ausübung, für 
frei erkannt. Da der Kurfürst sich an die Schmälerung seiner 
Gewalt nicht gewöhnen konnte, und ein Versuch, die Gräfin 
Reichenbach nach Kassel kommen zu lassen, beinahe einen Aus¬ 
stand hervorrief, so verließ er seine Residenz und ging nach 
Hanau und von da nach Frankfurt a. M., um mit der Reichen- 
bach ungestört leben zu können. Seinen Sohn, den Kur¬ 
prinzen Friedrich Wilhelm, ernannte er (Septbr. 1831) zum 
Mitregenten, da er nach der Verfassung sein Land von einem 
fremden Gebiete aus nicht regieren durfte, und dieser über- 
nahm von jetzt an allein die Regierung. 
Im Königreich Sachsen war es nicht die Unzufriedenheit 
mit den Sitten und dem Wandel der regierenden Personen, 
was den Ausbruch von Unruhen hervorrief, sondern der 
Verfall der öffentlichen Zustände. Das Gerichtsverfahren 
war schleppend und verworren. Die Städte standen unter 
sich selbst ergänzenden Magistraten, die nach oben hin eine 
sehr unvollständige, nach unten hin gar keine Rechenschaft 
ablegten. Die meist adeligen Besitzer der Rittergüter besaßen 
Vorrechte, welche das Landvolk in tiefster Abhängigkeit von 
ihnen erhielten. Die Willkür der Polizei gegen die unteren 
Klassen war grenzenlos. Die Strenge der Censur beeinträch- 
tigte den Leipziger Buchhandel, eine der vornehmsten Erwerbs- 
quellen des Landes. Die Industrie war durch hohe Abgaben 
niedergehalten und die Steuern drückten durch ungleiche 
Verkeilung den durch den großen Krieg schon ohnedies her-
	        
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