Full text: Erzählungen aus der neuesten Geschichte (1815 - 1881) (Teil 3)

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in ihm einen Charakter entwickelt, der sich in jede Lage des 
Lebens zu fügen wußte, und seinen natürlichen Scharfsinn 
zu einem hohen Grade von Feinheit ausgebildet, mit dem er 
eine ausgebildete Welt- und Menschenkenntniß verband. Zeuge 
des höchsten Steigens und des tiefsten Falles menschlicher 
Größe, hatte er, wenn auch persönlich ohne Furcht, sich einer 
gewissen Vorsicht und Bedächtigkeit des Handelns hingegeben 
und den Geist des Zweifels und des Mißtrauens in irdisches 
Glück in sich aufgenommen. Ohne entschiedene Ueberzeugung 
und Richtung huldigte er einer klugen Berechnung der jedes- 
maligen Verhältnisse, war aber zugleich ein Gegner aller Un¬ 
ordnung und Gewaltsamkeit und stets zu Milde und Mensch- 
lichkeit geneigt. Obgleich den ältesten Regentenfamilien an- 
gehörig, war er in den Augen des Volkes nur ein Empor- 
kömmling, ohne jede Kraft und Größe, die das Heer oder die 
Massen mit sich hätte fortreißen können und die der Franzose 
von je her von seinen Herrschern zu fordern geneigt war. 
Wenn auch Ludwig Philipp weder die bevorrechteten Stände, 
die ihm jedoch meist feindlich gegenüber standen, noch die 
Massen, die aber erst für das politische Leben heranzubilden 
waren, von sich entfernt hielt, so stützte er doch seinen Thron 
vorzugsweise auf den gebildeten und wohlhabenden Mittelstand, 
die sogenannte Bourgeoisie, und gab in den ersten Jahren seiner 
Regierung viel auf die Gunst der Nationalgarde, in der er die 
vornehmste Stütze seiner Krone erkannte. Er richtete keinen 
Hof ein, der zwischen ihm und der Nation gestanden hätte, 
und sein Privatleben blieb dasselbe wie zu der Zeit, wo er 
nur der erste Prinz von Geblüt gewesen. Seine jüngeren Söhne 
wurden nach wie vor in den öffentlichen Anstalten erzogen. 
Er entließ die Schweizerregimenter und führte keine Haus- 
truppen ein, suchte aber das stehende Heer dadurch an sich 
zu ziehen, daß er abwechselnd alle Regimenter zur Besetzung 
von Paris und der Umgegend herbeirief. Ueberall, wo 
Ludwig Philipp, der seine Ehre darein setzte, Bürgerkönig zu 
sein und zu heißen, sich öffentlich zeigte, wurde er in der 
ersten Zeit mit Begeisterung aufgenommen, und Alles, mit 
Ausnahme der Anhänger Karls X., überließ sich der lieber 
' Zeugung, an dem Ziele der mit 1789 begonnenen Umwäl¬ 
zungen angelangt zu sein. 
Stacke, neueste Geschichte. 3. Aufl. 12
	        
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