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konnte in derselben Nacht keinen Schlaf finden, er ließ sich das Denkbuch
holen, und fand daß Mordechai noch für seine Lebensrettung des Königs
nicht belohnt worden sei. Als Haman des Morgens vor dem Könige
erschien, fragte ihn dieser, auf welche Weise man einen Menschen aus—
zeichnen solle, den der König besonders ehren will. Haman, in der
Meinung, daß ihm diese Auszeichnung gelte, machte folgenden Vorschlag:
Ein solcher Mann werde mit königlichen Gewändern bekleidet, auf ein
koͤnigliches Roß gesetzt und von einem der höchsten Staatsbeamten, der
vor ihm ausrufe: „So wird der Mann ausgezeichnet, den der König
ehrt“, durch die Stadt geführt. Wie groß war der Schrecken Haman's
als der König antwortete: „Wohlan, das geschehe dem Juden Mordechai
und du selbst sollst das von ihm berittene Pferd durch die Stadt führen.“
Haman mußte den königlichen Befehl pünktlich vollziehen und seinem
Todfeinde eine für ihn selbst peinliche Huldigung darbringen. Von dieser
qualvollen Wanderung durch die Stadt in sein Haus zurückgekehrt, hatte
Haman kaum Zeit, seinem gepreßten Herzen durch Worte Luft zu machen,
als er von den Dienern des Königs zur Mahlzeit der Königin abgeholt
wurde. Während der Mahlzeit forderte der König wieder seine Gemalin
auf, eine Bitte an ihn zu stellen. Jetzt sprach die Königin: „Ich
bitte um mein Leben und um das Leben meiner Nation, denn dieser
schändliche Bösewicht — auf Haman zeigend — will uns alle vertilgen.“
Der König war ganz entrüstet, Haman wie vom Donner getroffen, fiel
auf seine Knie vor der Königin und bat um Gnade. Diese Stellung
Haman's brachte den König vollends in Wuth und als nun der Höfling
Charbonah eintrat, und die Mittheilung machte, daß Haman im Hofe
seines Hauses einen Galgen aufstellen ließ, um Mordechai, den Lebens—
retter des Königs, darauf hängen zu lassen, sprach Ahasverus rasch:
„Man hänge ihn selbst darauf!“ Der Befehl des Königs wurde sogleich
vollzogen. Die Liebe des Königs zu Esther nahm immer mehr zu,
Mordechai gelangte zur höchsten Staatswürde. Der Vertilgungsbefehl
gegen die Juden wurde natürlich zurückgenommen, diese erhielten sogar
die Erlaubniß sich gegen ihre Feinde zu rüsten und viele derselben wurden
aus diesem Anlasse getödtet. Zur Erinnerung an diese wunderbare Er—
rettung wird noch heutigen Tages am 14. Adar jedes Jahres das Purim—
fest (vom persischen Worte pur, „Los“, da der Tag der Vertilgung durch
das Los bestimmt wurde) gefeiert.
198. Die Apokryphen.
Außer den 24 Büchern der heiligen Schrift besitzen wir noch einige,
die, obgleich sie nicht in hebräischer Sprache abgefaßt, wenigstens in dieser
Sprache nicht vorhanden sind, und auch in den biblischen Kanon nicht
aufgenommen wurden, woher auch ihr Name Apokryphen, dennoch zweifel—
los jüdischen Ursprungs und vom jüdischem Geiste durchweht sind. Einige
derselben bieten uns Erzählungen aus der Geschichte des jüdischen
Volkes. Die Bücher der Apokryphen von ungleichem Umfange sind
folgende:
a) Das Buch Tobia: Tobia, ein frommer wohlthätiger Mann
aus dem Stamme Nephtali, wurde von Salmanassar, dem König