§. 72. 73. 
Die griechische Welt. 
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Dichter aus dem bunten Stoffe der Symbolik und Allegorie die verschiedensten Mythen an ein¬ 
ander reiht, so sucht man vergebens nach epischer Einheit, wenn schon der Titanenkampf (der 
jedoch gleich vielen andern Stellen erst durch spätere Einschaltung hinzugekommen sein mag) eine 
Art von Mittelpunkt zu bilden scheint. Die „Werke und Tage" zerfallen in mehrere verschie¬ 
denartige Theile; der erste ermuntert im Allgemeinen zu einem thätigen und gerechten Leben; der 
zweite gibt ökonomische Anweisungen und die 50 letzten Verse enthalten abergläubische Lehren über 
die glücklichen und unglücklichen Tage des Monats, wobei oft eine düstere, wehmüthige Lebens» 
anficht vorherrscht. „In den Werken und Tagen macht sich eine wackere, biedere, tüchtige, aber 
beschränkte Lebensansicht geltend. Ein goldenes Schatzkästlein für den verständigen Landmann und 
Kleinbürger, enthalten sie mancherlei Lehren und Regeln für Landbau, Schifffahrt, das häusliche 
und bürgerliche Leben, vermittelt durch die eigenen Erfahrungen des Dichters, welcher daher auch 
fein Bedenken trägt, mit seiner Person hervorzutreten und die reine Gegenständlichkeit Homers 
vermissen läßt." Ein der Theogonie ähnliches Gedicht des Hcsiod, von den griechischen Anfangs¬ 
worten: „oder wie solche" Eö en genannt, das die Heldenfrauen der alten Hellenischen Welt, die 
Stammmütter der Heroen besang, ist bis auf wenige Fragmente verloren gegangen. Das noch 
vorhandene beschreibende Gedicht: Der Schild des Herakles, eine Nachbildung der Homerischen 
Beschreibung des Schildes des Achilleus, wird von Vielen für einen Theil der verlorenen Dichtung 
„Eöen" gehalten. 
6. Hellenisches Wesen. 
§. 72. Griechenland bildete nie einen Gesammtstaat, sondern zerfiel in 
eine Menge unabhängiger Cantone und Stadtgemeinden, unter denen von Zeit 
zu Zeit der mächtigste, an einen Vorort angelehnte Staatsverband einen über¬ 
wiegenden Einfluß, eine Vorherrschaft (Hegemonie) übte. So Sparta, 
Athen, Theben. Aber Sprache, Sitten und religiöse Einrich¬ 
tungen vereinten alle Stämme zu Einer Nation, die sich, im Gegensatz zu 
den übrigen mit dem Gesammtnamen Barbaren bezeichneten Völkern, Hellenen 
nannte. Hohe Bildungsfähigkeit erhob die Griechen, besonders den ionischen 
Stamm, auf eine Stufe der Cultur, die seitdem nie wieder ihresgleichen 
hatte; Freiheitssinn und männliche Thatkraft führte sie zur Gründung vieler 
unabhängigen republikanischen Gemeinwesen, an die sie sich anfangs mit patrio¬ 
tischer Begeisterung anschlossen und die sie mit ihrem Herzblut vertheidigten, bis 
Parteiwuth die edleren Gefühle erstickte; Regsamkeit und Fleiß erzeugte allge¬ 
meinen Wohlstand, und ein schönes Land unter einem heitern Himmel, mit 
einem gesunden, glücklichen Klima, schuf Lebensfreude und einen frohen Sinn. 
Einfachheit bewirkte, daß man wenig bedurfte; Genügsamkeit mit dem, was der 
fruchtbare Boden und das günstig gelegene Land ohne große Anstrengung ge¬ 
währten, vertrieb die Sorgen und Kümmernisse des Daseins und erlaubte 
Jedem, die aus Poesie, Kunst und Wissenschaft fließenden geistigen Ge¬ 
nüsse in sich aufzunehmen. Einem so herrlich begabten, auch durch körperliche 
Schönheit und Wohlgestalt bevorzugten Volke gegenüber mußten alle Ausländer 
als roh und barbarisch erscheinen. Da sie nichthellenische Bestandtheile 
nie als gleichberechtigt in das Innere ihres Staatslebens zuließen, so Behielten 
sie stets ihre nationale Kraft und Eigenthümlichkeit. 
§• 73. Doch gab es einige mit der Religion zusammenhängende Einrichtungen und 
Anstalten, welche allen hellenischen Stämmen gemeinsam waren. Dazu gehört in erster 
Linie der an den Tempel von Delphi geknüpfteAmphiktyonen-Bund oderTempel¬ 
verein, ein Bnndes-Schiedsgericht, zu dem zwölf griechische Staaten Abgeordnete 
schickten und dessen Zweck war, das Nationalheiligthum in Delphi zu schützen und den 
verheerenden Wirkungen des Kriegs unter den hellenischen Bruderstämmen zu
	        
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