Das Chinesische Reich.
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frühester Jugend. Arme Leute nehmen häufig Mädchen von 3 bis 4 Jahren
und ziehen sie in ihrer Familie auf, damit sie im passenden Alter, oft mit
15 oder 16 Jahren, die Frauen ihrer Söhne werden.
Die Grundzüge des chinesischen Charakters sind Nüchternheit und Ruhe.
Damit Hand in Hand gehen vorwiegende Entwicklung des Verstandes und
Mangel an schöpferischer Phantasie. Aus diesen Anlagen erklärt sich die in
jeder Richtung zu Tage tretende Stagnation des Chinesen. Die Gesellschaft,
in welcher er lebt, beruht immer noch aus denselben Grundlagen, wie vor
tausend Jahren; die Wissenschaft, welche er cultivirt, bringt im wesentlichen
immer dieselben Resultate zu Wege (sie beschränkt sich in der Regel auf daö
Studium und das Commentiren der Alten); die Erfindungen, welche durch
die Bedürfnisse einer höhern Cultur geweckt wurden, sind noch immer dieselben
wie zu jener Zeit, da man sie machte. Das Vorhandene erscheint dem Chinesen
immer als das beste; für Ideale und Zukunftspläne, und wären sie noch so
golden, hat er keinen Sinn.
Der Chinese ist der Utilitarier v.ax í£,o%r¡v unter den Völkern. Er
ist fleißig, mäßig, betriebsam, nüchtern und immer gleichen Muthes. Er hat
nur Sinn für jene Dinge, welche das tägliche Brot betreffen; Dinge, die
außer diesem stehen, erscheinen ihm völlig unbegreiflich. Er cultivirt daher
nur jene Kräfte und Wissenschaften, welche in das tägliche Leben eingreifen.
Mit Speculationen über Dinge sich abzugeben, welche nicht in seinem Gesichts¬
kreise gelegen sind, vollends gar mit übersinnlichen Dingen sich zu besassen,
hält der gebildete Chinese für eine große Thorheit. Diese Richtung auf das
Praktische, welche zum allseitigen Verkehr mit Menschen führt, sowie eine
Beimischung von etwas Phlegma und eine von Jugend auf sorgfältig geleitete
Erziehung bewirken es, daß die Roheit im Chinesen fast ganz verschwindet
und aus ihm ein Mensch wird, der sich durch feine und gefällige Umgangs-
sormen auszeichnet. Freilich ist sich der Chinese seiner geselligen Bildung
bewußt und läßt den Abendländer, der in seinen Augen ein roher, ungebil¬
deter Barbar ist, seine Ueberlegenheit öfter fühlen.
Nirgends tritt die Bedeutung der Familie als Grundlage der Gesellschaft
mehr hervor, als in China. In der Familie wie im Staat übt das Ober¬
haupt seine Autorität vermöge des natürlichen, ihm gebührenden Rechtes.
Dieses Recht, sowie die mit ihm verbundene Gewalt sind groß, nicht minder
sind es aber auch die Pflichten, welche damit dem Oberhaupte auferlegt sind.
Der Vater ist nicht nur verpflichtet für den Unterhalt seines Kindes zu
sorgen, sondern es auch gut zu erziehen. Er ist für alle Vergehen desselben
verantwortlich. Für das begangene Verbrechen wird nicht nur der Verbrecher,
sondern auch seine Familie gestraft, bei schweren Verbrechen sogar die ganze
Nachbarschaft. Ebenso wie die Eltern für die Vergehen ihrer Kinder gestraft
werden, wird ihnen für die Verdienste derselben jegliche Auszeichnung zu theil.
Während bei uns erworbene Verdienste auf die Kinder vererbt werden können,
findet in China gerade das Umgekehrte statt. Eltern werden für die Ver¬
dienste ihrer Kinder oft im Grabe geadelt; dagegen sind Ansprüche, welche
sich auf das Verdienst der Eltern gründen, dort gänzlich unbekannt.
Aus denselben Pflichten, derselben Verantwortlichkeit, welchen wir inner¬
halb der Familie begegnen, sind auch die verschiedenen Verhältnisse innerhalb
des Staates aufgebaut. Der Kaiser repräsentirt den Vater, ihm gebührt die
gleiche Ehrfurcht, das gleiche Vertrauen. Man trauert beim Tode des Kaisers