§. 763. Süden und Westen Europa's. 281
ernsten, gedankenvollen Geschichte nimmt die auf Unterhaltung berechnete Mittel¬
gattung zwischen Geschichte und Roman eine untergeordnete Stelle ein. Dahin gehören
besonders die Werke von Vertot (Geschichte des Malteserordens u. A.) und St. Real
(Verschwörung von Venedig u. A.) und die zunehmende Zahl der Denkwürdigkeiten,
unter denen die von Sully (§. 658, freilich von angefochtener Echtheit, aber ein herr¬
liches Denkmal der Verdienste und hohen Gesichtspunkte des Ministers) und noch mehr
die des Cardinals von Retz (§. 741) eine Auszeichnung verdienen. Die letztem sind
als treues Abbild der bewegten Zeit der Fronde eben sowohl durch ihren Inhalt, als
durch den für die Kenntniß der Converfationsfprache der vornehmen Kreise wichtigen Stil
merkwürdig. Seine Werke zeigen eine Feinheit des Pinsels und eine Sicherheit der Con-
turen, wie man sie nur bei großen Meistern findet, sind aber weniger zuverlässig in den
Erzählungen. Einen ähnlichen Charakter tragen auch die „Briefe der Frau von Se-
vigne", worin mit unvergleichlicher Leichtigkeit und Anmuth des Ausdrucks sowohl die
Begebenheiten des Tages erzählt werden, als die gesellschaftliche Bildung der Zeit ihre
Darstellung findet. Bewundert und viel gelesen sowohl wegen der eleganten Form als
der Lebendigkeit der Schilderungen waren die Charakterzeichnungen Labruyere's
(§. 115) eines feinen Hofmanns und Lebensphilosophen, dem die Lächerlichkeit als der
größte Fehler erscheint, weil sie die Klippe ist, woran der Mensch in der Gesellschaft
scheitert, und die durch glänzenden Stil ausgezeichneten „Grundsätze und Betrach¬
tungen" (maximes et reflexions) von Larochefoucauld, dessen Haus den Sammel¬
platz der größten Geister seiner Zeit bildete. Aus diesem Buche ersieht man, wie sehr der
Egoismus die Haupttriebfeder der hohem Kreise war, denn seine Maximen sind nicht
sowohl „Resultate des allgemeinen Denkens als der damaligen Sitte". — Ein merkwür¬
diges Denkmal deutscher Gesinnung und deutschen Gemüths sind die Briefe und Denk¬
würdigkeiten der Elifabethe Charlotte von der Pfalz, zweiten Gemahlin des Her¬
zogs von Orleans (§. 758). Mitten im Gewühle des Hofes einsam, ohne Liebe für
ihren Gemahl, fühlte sie sich mit ihrem Bedürfniß vertraulicher Mittheilung auf ent¬
fernte Verwandte angewiesen, denen sie warme und ausschließende Sympathien widmete.
II. Erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts.
1. Süden und Westen Europa's.
a) Der spanische Erbfolgekrieg (1701-1714).
§. 763. Veranlassung. Der Ryswicker Friede (§. 758) ward darum
von Frankreich so eilig abgeschlossen, weil Ludwig bei der bevorstehenden Erle¬
digung des spanischen Thrones die Hände frei haben wollte. Noch bei Lebzeiten
des letzten spanischen Habsburgers, des kinderlosen Karl II., hatten die See¬
mächte und Frankreich im Haag einen Theilungsvertrag über dessen Länder ab¬
geschlossen. Dies reizte den Monarchen so sehr, daß er den bayerischen Prinzen
Joseph Ferdinand, dessen Mutter eine Habsburgerin war, zum Universal¬
erben einsetzte*). Aber zum Unglück für Europa starb der siebenjährige Kur¬
prinz noch vor dem Erblasser, was dem französischen Botschafter in Madrid
Gelegenheit gab, den schwachen, durch einen zweiten Theilungsvertrag aufs Neue
tief beleidigten König zu einem geheimen Testament zu bereden, worin mit Um¬
gehung Oesterreichs, das nach früheren Hausverträgen das nächste Anrecht auf
Vertot
t 1735.
St. Real
t 1692.
Frau von
Sevignö
1626—96
Labruyere
t 1696.
Larochc-
foucauld
t 1680.
1652—1722.
1697.
1693.
1699.
1700.