Sittliche und sociale Zustände im römischen Rcvolutionszeitalter. 241
aufgelöst und zerrüttet. Die alte Aristokratie war eine selbstsüch¬
tige Optimatenpartei geworden, das Volk Roms war längst nicht
mehr der altitalische, tüchtige Bürger- und Bauernstamm, sondern
eine unruhige, aus dem Zusammenfluss aller Länder gemischte, von
Demagogen oder Soldatenführern abwechselnd beherrschte Masse.
Da ein freier Mittelstand sowohl in der Stadt als auf dem Lande
fehlte, so standen die schroffsten Gegensätze unvermittelt gegen
einander. Verarmte Bürger, Clienten und Freigelassene, ja gelegent¬
lich Sklaven und Gladiatoren bildeten jetzt das „Brot und Spiele“1)
heischende Volk; fürstlich reiche und mächtige Optimalen, die
dieser Masse bald schmeichelten, bald sie schreckten, waren die
Herrscher. Mit dem ausgelassenen Luxus hielt die colossale
Verschuldung der Grossen gleichen Schritt. Der Auswurf aller
Welt sammelte sich in Rom. Italien war verwüstet, von Räubern
erfüllt. Die Verschmelzung der Bauernhöfe in die Latifundien der
Grossen war vollzogen, und wenn diese auch noch einmal in der
beginnenden Friedenszeit mit in ihrer Art glänzenden Ergebnissen
aufblühten, so konnten sie doch nur gekünstelte und unnatürliche
Resultate liefern. Die Provinzen erlagen unter dem Aussaugesystem
der Heerführer, Proconsuln, Steuerpächter und Wucherer2). — Die
auf militärischer Basis sich erhebende Monarchie war die nothwen¬
dige Folge dieser Zustände und zugleich die einzige Rettung aus
denselben. So abgemattet war das Volk durch den beständigen
Wechsel der Parteien, die beständige Bedrohung von Gut und
Leben, dass die Ordnung viel begehrenswerter schien als die
Freiheit3). — Die alte republikanische Tugend Roms war da¬
hin; die edelsten Männer, Cato, Cicero, sind wenigstens nicht frei
von engem Parteisinn. Alle Laster hatten aufs Furchtbarste ge¬
wuchert, die Achtung vor der Religion, welche der Staat als eine
seiner Institutionen aufrecht erhielt, war aufs Tiefste gesunken, da
sie von der Politik zum Vorwand benutzt ward und nur noch hohle
Ceremonie war. Der Gebildete suchte Trost in der Philosophie,
sei es bei den Epicureern (§ 108) oder Stoikern oder der
neueren Akademie, auch wohl im Eklekticismus, d. i. in
einer Auswahl aus den verschiedensten Systemen; bei den Unge¬
bildeten aber fand eine wirre Religionsmischerei und eine vor¬
herrschende Hinneigung zu orientalischen, mystischen und orgiasti-
schen Culten, wie dem der Kybele, Ma (§ 24), des Mithras (§ 31),
der Isis (§ 13), statt. Das sittliche und religiöse Leben stand am
Ziele, der Bankerott des Heidenthums war sichtbar geworden: die
Zeit war erfüllt, wo eine neue Religion den Völkern erscheinen
musste und von tieferen Geistern auch schon ersehnt wurde4).
*) panem et Circenses. 2) Cic. pro leg. Manil. 22. 23. 3) Tac. ann. I, 1
(Augustus) cuncta discordiis civilibus fessa nomine Principis sub Imperium acce-*
pit. Schon früher dieselbe Stimmung Plut. Caes. 28. *) Solche oft als gleich¬
sam heidnisch-messianische Stellen erwähnte sind: Suet. Yesp. 4. Tac. hist. V, 13.
Müller, Abriss. I. 2. Auflage. l(j