Full text: [Teil 6 = Klasse 4 (7. Schuljahr), [Schülerband]] (Teil 6 = Klasse 4 (7. Schuljahr), [Schülerband])

105 
„Ja," nickte sie, „das geschieht dir schon recht, — meinst, 's 
gibt einen Apfel, — Ohrfeigen gibt's, aber keinen Apfel." Dabei 
hielt sie ihm die Laffeeschüssel hin, und er trank mit vollen Zügen, 
die Augen ängstlich auf die Alte gerichtet, welche immer zu schelten 
fortfuhr. 
Plötzlich, sie wußte selbst nicht, wie's zugegangen war, hatte 
sie den erfrorenen Buben auf dem Schoß, sie schlug den weiten 
Mantel um ihn, und immer weiter scheltend, hielt sie ihn so fest 
an sich gepreßt. Bald hörte sie an dem ruhigen, tiefen Atmen 
des lindes, daß es eingeschlafen war, und sie schwieg und rührte 
sich nicht mehr. An dem Herzen dieser Achtzigjährigen hatte nie 
ein menschliches Wesen geruht; weder Liebe noch Wohlwollen, noch 
Mitleid hatten diese starren Arme zu öffnen vermocht. Denn sie 
war immer brummig gewesen und nur für ihren Vorteil interessiert, 
und der erschien ihr stets zweifelhaft, so oft ein Mann dabei im 
Spiel war. Jetzt ging von dem jungen Leben da eine wohltuende 
Märme auf sie über; sie lauschte aus die Atemzüge des Lindes, 
dessen Haupt unter ihrem Linn ruhte; sie wiegte es sacht, und es 
fiel ihr ein Lied ein, das sie in der Schule gelernt; sie begann es 
Zu singen, völlig sinnlos, mit zischenden Tönen. 
Als der Laternenputzer heimkam, rief sie ihn zu sich. 
„Da habt Ihr auch Euren Buben, hab' ihn Euch zum letzten¬ 
mal gehütet, — bedank' mich —" und sie legte dem Mann das 
schlaftrunkene Lind in die Arme. Hierauf fuhr sie über eine Stunde 
später als gewöhnlich mit ihren Lörben nach Hause. 
Am andern Morgen trat der kleine Mann zur gewohnten 
stunde aus dem Hause, um seinem Beruf nachzugehen. Den 
blicken der alten Frau drüben begegnend, blieb er stehen und 
schaute, wie sich besinnend, ernsthaft zu ihr hinüber. Dunkel er¬ 
innerte er sich an das Wohlbehagen, das er am vergangenen Abend 
empfunden. Er war ohne Mutter aufgewachsen und wußte nichts 
von der liebenden Sorgfalt, nichts von dem zarten Berühren einer 
ireuen Mutterhand. War ihm eine Ahnung davon geworden am 
Herzen der alten Frau? 
Plötzlich stand er auf seinem alten Platz vor dem Lorbe rot- 
ieuchtender Äpfel, aber er schaute über diese hinweg der Alten 
Ms Antlitz und sagte — diesmal ohne jede Nebenabsicht: „Du, ich 
heirat' dich."
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.