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„Ja," nickte sie, „das geschieht dir schon recht, — meinst, 's
gibt einen Apfel, — Ohrfeigen gibt's, aber keinen Apfel." Dabei
hielt sie ihm die Laffeeschüssel hin, und er trank mit vollen Zügen,
die Augen ängstlich auf die Alte gerichtet, welche immer zu schelten
fortfuhr.
Plötzlich, sie wußte selbst nicht, wie's zugegangen war, hatte
sie den erfrorenen Buben auf dem Schoß, sie schlug den weiten
Mantel um ihn, und immer weiter scheltend, hielt sie ihn so fest
an sich gepreßt. Bald hörte sie an dem ruhigen, tiefen Atmen
des lindes, daß es eingeschlafen war, und sie schwieg und rührte
sich nicht mehr. An dem Herzen dieser Achtzigjährigen hatte nie
ein menschliches Wesen geruht; weder Liebe noch Wohlwollen, noch
Mitleid hatten diese starren Arme zu öffnen vermocht. Denn sie
war immer brummig gewesen und nur für ihren Vorteil interessiert,
und der erschien ihr stets zweifelhaft, so oft ein Mann dabei im
Spiel war. Jetzt ging von dem jungen Leben da eine wohltuende
Märme auf sie über; sie lauschte aus die Atemzüge des Lindes,
dessen Haupt unter ihrem Linn ruhte; sie wiegte es sacht, und es
fiel ihr ein Lied ein, das sie in der Schule gelernt; sie begann es
Zu singen, völlig sinnlos, mit zischenden Tönen.
Als der Laternenputzer heimkam, rief sie ihn zu sich.
„Da habt Ihr auch Euren Buben, hab' ihn Euch zum letzten¬
mal gehütet, — bedank' mich —" und sie legte dem Mann das
schlaftrunkene Lind in die Arme. Hierauf fuhr sie über eine Stunde
später als gewöhnlich mit ihren Lörben nach Hause.
Am andern Morgen trat der kleine Mann zur gewohnten
stunde aus dem Hause, um seinem Beruf nachzugehen. Den
blicken der alten Frau drüben begegnend, blieb er stehen und
schaute, wie sich besinnend, ernsthaft zu ihr hinüber. Dunkel er¬
innerte er sich an das Wohlbehagen, das er am vergangenen Abend
empfunden. Er war ohne Mutter aufgewachsen und wußte nichts
von der liebenden Sorgfalt, nichts von dem zarten Berühren einer
ireuen Mutterhand. War ihm eine Ahnung davon geworden am
Herzen der alten Frau?
Plötzlich stand er auf seinem alten Platz vor dem Lorbe rot-
ieuchtender Äpfel, aber er schaute über diese hinweg der Alten
Ms Antlitz und sagte — diesmal ohne jede Nebenabsicht: „Du, ich
heirat' dich."