Full text: Lehrbuch der Deutschen Geschichte für die oberen Klassen höherer Mädchenschulen

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fürsten. „Niemals gönnte er seinen müden Gliedern Schlaf", erzählt 
der Mönch von Reinhardsbrunn, „bevor er nicht eine Vorlesung an¬ 
gehört, bald aus heiligen Schriften, bald von dem Heldenmut alter 
Fürsten. Ganze Nächte hindurch lauschte er dem Vortrage lateinischer 
oder deutscher Schriften." Schon in jüngeren Jahren, da er als Pfalz- 
graf von Sachsen zu Freiburg an der Unstrut saß, bewies er den 
Dichtern seine Gunst. Nach seines Bruders Tode nahm Landgraf 
Hermann seinen Sitz auf der Wartburg und konnte bei den reichen 
Mitteln, die ihm zu Gebote standen, seine Kunstliebe mehr betätigen. 
Dort wurde das Landgrafenhaus von ihm entweder neu erbaut oder 
doch im Bau vollendet, das schönste Wohngebäude, das aus dem 12. Jahr¬ 
hundert in Deutschland erhalten ist. In den Hallen dieses Schlosses 
hielt Landgras Hermann mit seiner Gemahlin Sophie von Wittels¬ 
bach glänzenden Hof und zog von nah und fern Gäste herbei. Nirgends 
wurden Gäste lieber empfangen und reicher belohnt, und die größten 
Dichter sind jahrelang hier eingekehrt, so Wolfram von Eschenbach 
und Walter von der Vogel weide. Nicht immer behagte ihnen 
das Treiben am Hofe, des Lärmens und Drängens ward ihnen wohl 
zu viel und Unwürdige vertraten Würdigeren den Weg. Aber einstimmig 
sind sie in dem dankbaren Lobe des Fürsten, der ihnen seine Gunst 
beständig erhielt. 
An dem Hofe des Landgrafen verfaßte Wolfram von Eschenbach 
sein Hauptwerk, den Parzival, in welchem er die aus Frankreick 
stammenden Sagen vom König Artus und vom heiligen Gral ver¬ 
arbeitete. Und doch war Wolfram nach unseren Begriffen ein geistig 
ungebildeter Mann; lesen und schreiben hatte er nicht gelernt, er kannte 
keinen Buchstaben und dichtete doch Werke von höchstem Werte. 
Wie Wolfram, so wurden auch andere Meister von dem kunst¬ 
sinnigen Landgrafen zu Dichtungen in deutscher Sprache aufgemuntert; 
er schaffte die französischen Bücher herbei, aus denen sie die Stoffe ent¬ 
nahmen. Auch die hohenstaufifchen Kaiser, wie Heinrich VI., Friedrich IT. 
und Konradin waren nicht nur Gönner der ritterlichen Dichter, sondern 
zeichneten sich im Minnegesang aus. 
Walter von der Vogelweide entsproß aus einfachem Stande, 
er ward Dienstmann, Ritter ant Hofe der Babenberger zu Wien; hier 
gewann er in jungen Jahren seine Kunst, er lernte „singen und sagen". 
Als der ihm günstig gesinnte Herzog Friedrich auf einer Kreuzfahrt im 
Jahre 1198 gestorben war, verließ der Dichter das österreichische Land. 
Seine Lehrjahre waren vorüber; eine neue Zeit begann damals für 
Deutschland. Es waren die Zeiten, in denen Friedrich und Otto sich 
entgegentraten und jener zerrüttende Bürgerkrieg ausbrach, der durch 
die Einmischung Jnnocenz' III. geschürt wurde. Die veränderten Ver¬ 
hältnisse übten nachteiligen Einfluß auch auf das heitere Sänger- und 
Ritterleben aus und Walter, der eifrig Partei nahm, mußte nun 
ein ruheloses und unstetes Leben sühten. Allenthalben läßt er seine
	        
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