— 107 —
Fußboden des Chores, die Altarnische nimmt vieleckige Gestalt
ein; im Innern, erst später auch an der Außenseite, findet der
Spitzbogen Verwendung, der, weil er geringeren Druck ausübt,
nur schwächerer Stützen bedarf; die Bogen werden reicher ver¬
ziert, die Ornamente des jetzt häufig kelchsörmigen Kapitells ent¬
salten sich loser und freier, an die Pfeiler schließen sich zierliche
Halbsäulen an, und das große runde Fenster, das oft über dem
Westportale der Kirche steht, füllt sich mit reicher Steinzierart. In
solchen Formen sind die Bauten der Hohenstausenzeit entstanden.
Während bisher die kirchlichen Baumeister den Kirchenbau
geleitet hatten, traten seit dem 13. Jahrhundert die weltlichen
Bauhandwerker, Maurer und Steinmetzen, zu Zünften zusammen,
die sich dann als Bauhütten bezeichneten. Diese Bauhütten
haben die schwierigste und kühnste aller Stilarten, die Gotik, zu
wunderbarer Vollendung ausgebildet. Bei größeren Kirchen bildet
das Kreuz den Grundplan, doch der Chor erhebt sich nur um
wenige Stufen und wird zu einer Fortsetzung des Hauptschiffes,
während die Seitenschiffe oft bis zur Höhe desselben aufsteigen
und sich um den Chor als Rundgang fortsetzen; zuweilen um¬
gibt den Chor. der im Viereck schließt, noch ein Kranz von
Kapellen. Im Westen erhebt sich der Turm oder ein Turmpaar,
vom Viereck zum Achteck, von diesem zur schlanken Pyramide
übergehend, die endlich der Turmhelm krönt. Für den Aufbau
ist der Spitzbogen entscheidend.
Da die ganze Schwere des Gewölbes und des Daches nicht
mehr auf den Mauern, sondern lediglich aus den Säulen und
Pfeilern lastete, so wurden diese durch Strebepfeiler und Strebe¬
bogen von außenher gestützt.
Dem Grundgedanken des ganzen Systems entsprechend, streben
alle einzelnen Teile des Baues, die Pfeiler und Säulen, die
Fenster und Portale, die Türme und Dächer, die Fialen (oder
Türmchen) auf den Strebepfeilern und die spitzzulausenden Fenster¬
giebel oder Wimperge zu luftiger Höhe empor und sind an den
Kanten mit Blumenzierwerken (oder Krabben) und oben aus
der Spitze mit der mehrzackigen Kreuzblume geschmückt. Den
weihevollen Eindruck erhöhen die buntfarbig bemalten, mit schlanken
Pfosten und zierlichem Maßwerk ausgestatteten Fenster; unter
denselben bildet das riesige Radsenster über dem Hauptportale
die vornehmste Zierde der Stirnseite oder Fassade.
So gestaltete sich der gewaltige Bau zu einem lebendigen
Ausdrucke nicht nur des freien und hofsnungssreudig ausblicken¬
den Gottesgedankens, sondern auch des selbstbewußten und stolz
gewordenen Bürgertums. Der hochragende Dom verkündete nicht
bloß die Ehre Gottes, sondern gleichsam auch den Reichtum und
das Machtgefühl des Bürgerstandes.