Full text: Deutsches Lesebuch für die weibliche Jugend

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ist das etwa nichts Rechtes und Brauchbares, wenn das Kind im 
Kindergarten Blumen, Kräuter und Geireidearten in seinem Gärt— 
chen sät und aufgehen sieht und pflegt und erntet, wenn es Blätter 
Und Samenarten unterscheiden und sammeln lernt, wenn es ab und 
zu auch in Wald und Feld geführt wird, um zu sehen, was da zu 
vberschiedener Jahreszeit vorgeht? wenn es Tafelstein und Bleistift 
zum Zeichnen sicher führen lernt und sie gebraucht bald nach eigener 
Lust, bald nach wohlerwogener Methode? wenn es mit der Steck⸗ 
nadel schöne Formen lebender Wesen, Sterne und Arabesken fein 
und sorgfältig ausstechen und mit der Nähnadel sie in bunter Wolle 
und Seide reinlich und fehlerfrei ausnähen muß? Haltet ihr die 
Baukasten, mit denen es unzählige Gegenstände sich selbst deutlich 
und lebendig darstellt, für kein Bildungsmittel, sind die Kenntnisse 
qus der Raum⸗ und Zahlenlehre, welche das Kind aus Flecht- und 
Faltblatt und dem Släbchenlegen, der Kenntnis der Farben, und 
der Geschmack für ihre Zusammenstellung, welche es aus den bun— 
len Bällen, aus dem Kettenaufziehen, dem Flechten gewinnt — ist 
das alles nichts? Daß das Kind in den Bewegungsspielen, wie wir 
sie nennen, Tätigkeiten des Menschen (des Jäger, Reiters, Müllers) 
oder Vorgänge aus dem Leben der Tiere kennen lernt und, indem 
es sie selbst darstellt, mit der Freude, welche das Kind am Nach⸗ 
ahmen hat, und mit der Lebendigkeit seiner Phantasie alles das 
gleichsam selbst in sich erlebt, das wäre keine Art, das Kind zu be— 
lehren und zu bilden? Daß es hierbei seinen Leib frisch tummelt und 
seine Gliedmaßen gewandt und schicklich bewegen lernt, gilt euch das 
nicht als eine Vorstufe und eine finnige Art des Turnens, das ihr 
doch alle für ein so vortreffliches Bildungsmittel der Jugend und 
des ganzen Volkes anseht? Endlich der ernste und heitere Chor— 
gesang, die Lieder und Gedichte, die biblischen Geschichten und die 
Erzählungen aus der Weltgeschichte, die Märchen, Sagen und Fa— 
beln — das ist euch alles noch kein rechter Unterricht, keine voll— 
gültige Erziehung, kein re chtes Lehren und Lernen, bloßer Scherz 
und Spiel und Tand und heiterer Zeitvertreib? Was wollt ihr 
denn noch? Was vermißt ihr? 
Ja, aber Lesen und Schreiben — 
Schreiben? Zuerst lernt das Kind gehen und dann erst sprin⸗ 
gen und tanzen, und so muß es zuerst zeichnen lernen und nach⸗ 
her schreiben; denn Schreiben ist nur eine bestimmte Art des Zeich⸗ 
nens, und wer es für etwas anderes ansieht, der irrt. 
Und Lesen — aber warum soll denn das Kind lieber lesen, 
wie ein Haus, ein rechter und spitzer Winkel, ein Pferd, ein Pflug 
aussieht, was der Ackersmann und der Müller treibt, wer der Cyrus 
Und der alte Fritz gewesen, wie die Biene und die Taube einander
	        
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