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Besitz. Rom war im Lause der Jahrhunderte zu einer Umgestaltung
reis geworden; während die glänzende Außenseite noch fleckenlos sich der
Welt zeigte, war der innerste Kern von unheilbarer Krankheit zerstört.
Ein neuer gewaltiger Sturm sollte eine neue Zeit herbeiführen; und so
gerne der gemüthliche Leser die Augen schließen möchte vor den Gräueln,
unter welchen die römische Republik allmählich zerstört und auf ihren
Trümmern die Alleinherrschaft des Kaiserreichs errichtet ward — der
unerbittliche Gang der Geschichte fordert auch für diese verwirrten und
trüben Zeiten ein aufmerksames Ohr.
In der mit kurzen Worten so eben geschilderten inneren Auflösung
des Staates versuchten es zwei junge Römer aus edler Familie, zwei
Brüder, dem Gang der Dinge eine andere Bahn anzuweisen. Die Um¬
gestaltung wurde als eine Reform begonnen, als eine Revolution durch¬
geführt, deren Stifter theils von den Ereignissen, theils durch eigene
Leidenschaft über das Maß des bürgerlichen Rechtes Hinausgetrieben, als
Opfer einer verhängnißvollen Uebergangszeit fielen, die so wild bewegt
und von so verschiedenen Interessen durchwühlt war, daß man die
Grenze zwischen Recht und Unrecht im Tumult der Leidenschaft kaum
mehr zu bestimmen wagen darf.
Die beiden Brüder hießen Tiberius und Cajus Gracchus.
Ihre Mutter, die edle, vielgepriesene Cornelia, war die jüngste Tochter
des Scipio Asricanus des Aelteren und wurde nach dem Tode ihres
großen Vaters von der Familie der Scipionen dem Gracchus vermählt,
welcher, obschon ein Gegner Scipio's, doch die Vertheidigung desselben
gegen die Anklage Cato's vor dem Volke mit hingebendem Eifer und
beredter Ueberzeugung geführt hatte. Tiberius Sempronius Gracchus
war zwar aus einer plebejischen, jedoch berühmten Familie; er selbst,
nicht nur Volkstribun und Augur, sondern auch Censor und zweimal
Consul, gehörte unter die ausgezeichnetsten Männer Roms. Nach seinem
frühzeitigen Tode hinterließ er zwölf Kinder, von denen nur zwei Söhne,
Tiberius und Cajus, und eine Tochter, Sempronia, am Leben blieben,
deren Erziehung Cornelia mit aufopfernder Liebe und großer Weisheit
leitete.
Von ihr wird die bekannte Anekdote erzählt, daß, als eine römische
Matrone ihr beim Besuche ihren reichen Schmuck zeigte und dann den
ihrigen zu sehen begehrte, Cornelia auf ihre beiden Knaben mit den
Worten zeigte: „Dies sind meine Kleinodien!^
Als Cornelia Wittwe geworden war, bewarben sich die Edelsten
der Römer um ihre Hand; doch sie, jede Vermählung abweisend, sogar
den ägyptischen Thron, auf welchen sie König Ptolemäus als seine Ge¬
mahlin erheben wollte, lebte nur für ihre Kinder, besonders für ihre
beiden Söhne, die so sorgfältig erzogen, so trefflich unterrichtet wurden,
daß man sie die Zierde der römischen Jugend nannte, während Sem¬
pronia mit dem jüngeren Scipio vermählt wurde. Cornelia erwartete