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2. Die frühesten Bewohner.
Im fernen Osten, jenseits der Länder der Semiten, haben wir das
Urvolk der Arier kennen gelernt, von welchem ein Zweig in die Thäler
des Indus und Ganges Herabstieg, der andere sich nördlich wandte und
unter dem Namen des Zendvolks das alte Iran bewohnte. Ein dritter
Zweig desselben Stammes hat, wie man glaubt, sich nach Westen ge¬
wendet und die Halbinsel besetzt, welche den Namen Hellas empfangen
hat. Wann und auf welche Weise dieser Uebergang von Asien nach
Europa erfolgte, liegt vor aller historischen Ueberlieferung, doch wird
aus verschiedenen Gründen angenommen, daß diese frühesten arischen
Stämme im Norden durch das schwarze Meer ihren Weg gefunden
haben und auf solche Weise die Stammväter der Griechen und Germanen
geworden sind.
Die Vermuthungen gelehrter Forscher über diese Ureinwanderungen
jedoch bei Seite lassend, begnügen wir uns, mit einem kurzen Wort auf
die Verwandtschaft der genannten Völker in Sprache, Religion und
Poesie hinzuweisen, wo, trotz der verschiedenartigsten Entwicklung und
Ausbildung, doch gemeinsame Grundstoffe und Erinnerungen sich aus¬
prägen ; so in einzelnen Benennungen und Sprachformen, wie in der
Bedeutung und Erscheinung verschiedener Göttergestalten und in den
Anklängen der alten Heldendichtung, welche oft auf überraschende Weise
hervortreten. Auf solchem Wege hat sich der Glaube befestigt, daß vor
undenklichen Zeiten ein altes Volk jene verloren gegangene Muttersprache
gesprochen habe, von welcher das Sanskrit der Inder wie die griechische
Sprache nur Töchter- oder Enkelsprachen sind.
Wie dem nun sei: Aus dem Dunkel der griechischen Urgeschichte
tritt zuerst der Name der Pelasger hervor, des ältesten, rätselhaften
Volkes, welches sich aus der Dämmerung der Sagenwelt, wenn auch
in unsichern und schwankenden Umrissen ablöst. Die Griechen hatten
keine Ahnung von einer Bevölkerung, die diesem Urvolke voranging.
Sie bezeichneten mit dem Namen Pelasger die vor aller Erinnerung in
festen Wohnsitzen lebenden Stämme, welche die Wälder gelichtet, die
Sümpfe getrocknet, die stockenden Gewässer abgeleitet und den Boden urbar
gemacht, welche, mit einem Worte, die Vorarbeiten zur Geschichte des
Landes gemacht hatten, und Autochthonen, d. H. dem Boden Angehörige,
hießen. In diesem Sinne hat die Geschichte mit gutem Rechte das Volk
der Pelasger als den vorherrschenden Theil der Urbevölkerung Griechen¬
lands angenommen, von ^welchem die ersten Anfänge des religiösen und
staatlichen Lebens ausgegangen sind, die Grundlage für die spätere
Entwickelung der griechischen Kultur und Geschichte geschaffen haben.