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und Rhetoren öffentliche Vorlesungen hielten. Die folgenden Kaiser
wollten in diesen Bestrebungen nicht zurückbleiben, sondern auf der ein¬
mal eingeschlagenen Bahn der öffentlichen Bildung weiter schreiten.
Die Wissenschaft, früher nur Lieblingsbeschäftigung einzelner durch Natur
und Glück Begabter, wurde nach und nach ein zünftiges Gewerbe, wie wir uns
dies auch aus der Verfallzeit des griechischen Volkes erinnern, und um
so mehr, als die philosophischen Schulen, um welche es sich allerwärts
zunächst handelte, ohnehin aus fremdem Boden nach Rom verpflanzt
waren.
Mit Augustus war die goldene Zeit der römischen Literatur vor¬
über. Die letzten Strahlen, welche in die folgende Kaiferzeit herüber¬
fielen, faßte man unter dem Namen des „silbernen Zeitalters" zusam¬
men. „Die Unsicherheit alles Seins und Besitzens, die stete Angst, in
der man lebte, bewirkte eine Gereiztheit und Hast der literarischen Be¬
schäftigungen, welche der gesunden Entwicklung des geistigen Schaffens
nicht gedeihlich waren," heißt es in Bernhardts römischer Literatur¬
geschichte; und es wurde zunächst die in so schöner Entwicklung begriffene
Prosa getroffen, die politische Beredsamkeit, welche bis jetzt der Gipfel
und die Blüthe der römischen Prosa geworden war. Sie mußte von
dem Augenblick an zurückgehen, als ihr die freie Anwendung der Ueber»
redungskraft entzogen ward.
Je mehr die freie Rede aus der Oeffentlichkeit verschwand und auf
den Gerichts- und Hörfaal beschränkt ward, desto größere Bedeutung
erlangte das schulgemäße Studium der'Rhetorik, welche durch gelehrten
Prunk und künstliche Verdrehung der Sprache dem Ausdruck seine Ge¬
fühlswahrheit schmälerte. Abermals taucht hier der Name, und nicht
nur der Name, sondern der Charakter und die Wirksamkeit der alten
Sophisten auf, die denn auch ihres Einflusses auf den gestimmten Bil¬
dungskreis in Wissenschaft und Poesie sich ungefcheut rühmen durften.
Auch das Studium der Geschichte litt unter der Gefahr, die es
brachte, die Wahrheit zu sagen. Die Zeit der guten Kaiser brachte
Besserung, aber sie war nicht lang und nicht stark genug, um die ver¬
lorenen Blüthen durch Früchte zu ersetzen.
Einen einzigen Geschichtschreiber haben wir aus dieser Zeit anzu¬
geben, in dem die Gesinnungstüchtigkeit und Formenkraft der früheren
Epoche wieder auflebte und der in der schmerzvollen Bitterkeit, mit wel¬
cher die Gegenwart ihn erfüllte und in der durch die Umstände ge¬
botenen Zurückhaltung die innerliche Wärme und die Strenge der Form
fand, die den klassischen Styl bezeichnet, CorneliusTacitus. Tacitus
war zweifellos der größte der römischen Geschichtschreiber, dessen wissenschaft¬
liche Selbstständigkeit nie eine fremde Berührung geduldet hat, dem wir
bereits bei Gelegenheit der Schilderung unserer germanischen Urväter
begegnet sind. Er war im südlichen Umbrien etwa 52—54 geboren und
ist unter Hadrian, jedenfalls nach 115, gestorben. Somit hat er, von