328
3. Die deutsche Literatur vor Klopstock.
In der Bildungsgeschichte Deutschlands ist das achtzehnte Jahr¬
hundert ein so wichtiges, inhaltreiches und folgenschweres geworden, daß
es fast unmöglich fällt, in zwei oder drei kleinen Blättern eine Ueber¬
sicht alles dessen zu geben, was in Wissenschaft, Poesie und Kunst diesen
Zeitraum als einzig in seiner Art bezeichnet. Nirgends kann man so
klar und unverhüllt das Fortschreiten des sich Stufe für Stufe ent¬
wickelnden Geistes beobachten, als in der deutschen Literatur des acht¬
zehnten Jahrhunderts. Es gleicht dem Keimen und Aufwachsen der
Pflanze von Glied zu Glied, von Blatt zu Blatt, bis zum Erschließen
der duftenden Blüthe; und überall tritt uns deutlicher als je der tröst¬
liche Gedanke entgegen, daß, was auch dem Einzelnen an Harmonie der
Vollendung fehlt, so viel auch das, was er schafft, zu wünschen übrig
läßt, doch Jeder seine richtige Stelle in dem allgemeinen Kreise ausfüllt,
und fördernd eingreift durch das, was er besitzt, und oft auch zuweilen,
ohne es zu wissen, durch das, was ihm mangelt. Zum Gipfelpunkt
schickt Gott dann wohl ein wahrhaftiges Genie, welches zusammenfaßt und
in sich vollendet, was die Anderen fleißig und sorgsam im Einzelnen
gesammelt haben. Daß Deutschland auserwählt war, eine zweimalige
Blüthenzeit in der Literatur zu erleben, ist wohl keines der geringsten
Güter, mit welchen unser Volk gesegnet worden ist.
Wir beginnen die kurze Uebersicht mit den frommen Männern,
welche durch die Schrift, wie durch Wort und That, das religiöse Leben
ihres Volkes, das durch die wilden Zeiten der fortwährenden Kriegs¬
unruhen nur allzuviel an seiner Kraft eingebüßt hatte, neu zu erheben
und zu reinigen suchten. „Wie schwer damals in Deutschland irgend
ein Lichtstrahl gesunder Vernunft durch die dicke Finsterniß der gelehrten
Quartanten und Folianten, der symbolischen Bücher und Konkordien-
formeln drang," sagt Schlosser, „wie viel es kostete, die wahre, reine
Religion gegen die Fakultäten und Konsistorien, gegen die Polizei des
Staates und gegen den Eifer polternder Kanzelredner zu behaupten,
kann man aus dem Leben des ächt-christlich-frommen Spener und seiner
Gesinnungsgenossen und aus den Verfolgungen und Verläumdungen,
die sie erlitten haben, lernen."
Jakob Spener (geb. im Elsaß 1635), zuerst Prediger in Stra߬
burg und Frankfurt am Main, dann Oberhofprediger in Dresden, end¬
lich Propst und Konsistorialrath zu Berlin, führte, um den christlichen
Glauben in den Gemeinden zu beleben, häusliche Andachtszusammenkünfte
ein, empfahl den Theologen das Lesen der heiligen Schrift, hielt deut¬
sche Vorlesungen über die Bibel und bestrebte sich besonders durch ka-
techetische Belehrungen, die seit Luther ganz vernachlässigt worden, die