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Sestus, woher sie Lebensmittel bezogen, war zu entfernt, und
die Rhede selbst offen und schutzlos. Alcibiades, welcher gerade
in der Nähe war, sah die Gefahr und wagte sich selbst herzu.
Er warnte die Athener und rieth zur Vorsicht; allein man
wies ihn trotzig zurück, mit dem Bemerken, hier hätten jetzt
andere zu befehlen. Mit stolzer Zuversicht näherte sich mehre
Morgen hintereinander die athenische Flotte der spartanischen
und neckte und lockte sie zum Kampfe in offener See. Der
lauernde Lysander aber blieb ruhig in seiner sicheren Bucht.
Das hielten die Athener für Feigheit, zogen höhnend zurück und
zerstreueten sich dann sorglos vom Bord ihrer Schiffe aufs
Land, um Lebensmittel beizutreiben. Am fünften Tage, als sich
die Athener nach vergeblicher Herausforderung wieder zerstreuet
hatten; da Plötzlich ging Lysander mit vollen Segeln auf die
wehrlose Flotte los und eroberte sie. Auch die Landtruppen wur-
den überfallen und gefangen genommen. Bloß Konon rettete
sich mit neun Schiffen nach Cppern zum Könige Evagoras. ')
Alle Athener, dreitausend an der Zahl, nebst ihren Führern,
ließ der rachesüchtige Lysander ohne Gnade enthaupten, weil sie
vor der Schlacht beschlossen hatten, den Gefangenen den rech-
ten Daumen abzuhauen, um sie dadurch zum Schiffsdienste un-
tüchtig zu machen.
So ward im Jahre 405 vor Chr. die ganze Macht der
Athener zu Wasser und zu Lande fast ohne Schwertstreich an
einem Tage vernichtet. 2)
Athen gerieth bei der Nachricht dieses grenzenlosen Un-
glückes in die äußerste Bestürzung. Alle Mittel, eine neue
Macht zu schaffen, waren erschöpft; die Belagerung der Stadt
erschien unvermeidlich, und die Erinnerung, was sie selbst frü¬
her an den Mitylenern und anderen Griechen verschuldet, erhö-
hete nun die Furcht vor dem eigenen Geschicke. Lysander nahm
') Nach der weniger verbürgten Nachricht des Corn. Nepos wohnte
Konon dieser Schlacht gar nicht bei. („Itaque nemini erat bis tem-
poribus dubium, si (Conon) adfuisset, illam Atbenienses calamitatem
acceptnros non fuisse.")
2) Um dieselbe Zeit (406) begannen die Römer die Belagerung von
Veji, gaben den Truppen Sold und bahnten sich so den Weg zu grö¬
ßeren Unternehmungen.
Welt er, Gesch. der Gritchen. 3. Aufl. 17