Rom unter Kaiser Tiberius.
157
erkannten auch ihr tiefes Ehrgefühl an, ihre Treue gegen Anführer und
Freunde, ihre Hochachtung des weiblichen Geschlechtes, die keusche Sitte
bei Vornehmen und Gemeinen, die Menschlichkeit gegen die Leibeigenen,
den Thatendrang uud die Wißbegierde, von welcher die Germanen be-
lebt waren. Wenn ernsthafte Römer ihr sklavisches, sittlich verdorbenes,
auch leiblich herabgekommenes Volk mit den rohen, aber urkräftigen,
sittenreinen und ruhmbegierigen freien Germanen verglichen, so wurden
sie von der Besorgnis ergriffen, das römische Reich werde einst durch
einen germanischen Völkersturm zertrümmert werden. Das schönste Zeug-
nis hat der Schriftsteller Tacitus unfern Vorfahren in seiner „Germania"
ausgestellt. Seine Schilderung muß freilich vielfach als eine übertriebene,
den Germanen zu günstige betrachtet werden, weil er diese seinen sittlich
verkommenen Landsleuten als Spiegelbild vorführen wollte. Davon hatten
die Römer aber keine Ahnung, daß die Germanen von der Vorsehung dazu
bestimmt waren, durch die Aufnahme des Christentums Europa zu ver-
jüngen und der christlichen Kultur auf der ganzen Erde Bahn zu brechen.
Kaiser Tiberius.
(14-37 n. Ghr.)
§ 15. Als Augustus gestorben war, wurde ihm durch einen Senats-
beschluß göttliche Verehrung zuerkannt. Ihm folgte in der Herrschaft sein
Stiefsohn Tiberius, der sich aber der Form wegen vom Senat inständig
bitten ließ, die Leitung des Staates zu übernehmen. Nachdem dieses
Schauspiel gegenseitiger Heuchelei aufgeführt war, ließ Tiberius einen
Enkel des Augustus, den jungen Agrippa, umbringen, und während
seiner 23jährigen Regierung verging kein Jahr, ohne daß vornehme
Römer dem Mißtrauen und Haffe des Kaisers zum Opfer fielen. Manch-
mal beorderte er kurzweg einen Eentnrio (Hauptmann) mit seiner Mann-
schuft, irgend eine mißliebige Person zu töten, öfters aber ließ er den
zum Tode Bestimmten durch einen Senator in dem Senate anklagen
und verurteilen. Niemals fehlten Ankläger, noch weniger zögerte jemals
der Senat, das Todesurteil auszusprechen. Tiberius verachtete die Sena-
toren und das Volk wegen ihrer Niederträchtigkeit und verhehlte seine
Gesinnung nur wenig; sie vergalten ihm dafür mit tückischem Hasse,
wagten aber aus Furcht vor den Soldaten nichts gegen den Tyrannen
zu unternehmen. Nur Einem, dem Ritter Sejanus, schenkte der Arg-
wöhnische seine Gunst und sein volles Vertrauen, und dieser benutzte es
zum Verderben der kaiserlichen Familie. Tiberius hatte noch bei Leb-
zeiten des Augustus den Sohn seines verstorbenen Bruders Drusus an
Kindesstatt angenommen, und dieser junge Prinz, der wie sein Vater