Vorrere. 
XV 
die Entfesselung der Menschheit von dem Banne der Ueberlieferung, der Vorurtheile, 
des Herkommens gerichtet war, konnte mir die Umkehr der Kunst und Wissen¬ 
schaft zu den Gebilden und erträumten Idealen einer überwundenen Vergangen¬ 
heit nur als ein Irrweg erscheinen. Doch habe ich niemals verkannt, daß die 
romantische Schule aus die deutsche Literatur, Poesie und Anschauungsweise erfolg¬ 
reich eingewirkt hat, daß sie die Phantasie belebte, den Natursinn erweckte, die 
dürre Verstandesbildung der Aufklärungszeit zurückdrängte und den altdeutschen 
Studien einen mächtigen Impuls gab; und vor dem großen historischen Wissen 
und dem ehrenwerthen Charakter des Verfassers der „Geschichte der italienischen 
Republiken des Mittelalters", der seinen Stammbaum von einer der politischen 
Flüchtlingsfamilien des Apenninenlandes herleitete, habe ich stets die größte Hoch¬ 
achtung empfunden. In den heißen Sommertagen 1834 machte ich mit meinen 
Zöglingen eine reizende Fußtour nach Chamonny und zurück durch Unterwallis. 
Im Herbst 1834 wurde die längst projectirte Reise nach Italien unternommen, 
wo die Familie den Winter zuzubringen beabsichtigte. Wir fuhren im eigenen 
Wagen mit 4 Pferden, die ein italienischer Vetturino stellte, am Südufer des 
Genfer Sees entlang, durch das Wallis über den Simplon nach dem Lago 
maggiore und von da aus nach Mailand, Verona und Venedig. Zu jener Zeit 
war eine italienische Reise noch eine ganz andere Sache als heut zu Tage. Der 
Vetturino hatte vertragsweise die Kosten für Fahrt, Zehrung und Herberge über¬ 
nommen; er fand dabei seine Rechnung und hatte, da er tageweise bezahlt ward, 
durchaus kein Interesse, die Reise zu beschleunigen. Wir machten kurze Tage¬ 
fahrten , verweilten in jeder der bedeutenderen Städte des mittleren und oberen 
Italiens etliche Tage, um die Merkwürdigkeiten zu besichtigen und kamen erst 
nach etwa sechs Wochen über Florenz, Perugia und am Wasserfall von Terni 
vorüber in Rom an. Dafür war aber auch die Ausbeute um so reicher. Eine 
Fülle bildender Elemente aller Art strömte in die Seele ein und ein Schatz von 
historischen und künstlerischen Kenntnissen und Eindrücken, von Länder- und 
Völkerkunde wurde gewonnen. In Rom, wo wir sechs Wintermonate 1834 auf 
1835 verbrachten, hatte ich die günstigste Gelegenheit, meine Studien über Kunst 
und Alterthum an der besten Quelle zu erfrischen und zu beleben. Es würde 
zu weit führen, wollte ich den einzelnen Spuren und Erlebnissen in jener Welt¬ 
stadt folgen, wo die Kunstgeschichte ihren Brennpunkt und Sammelplatz hat, von 
wo aus das geschichtliche Leben Europa's in verschiedenen Epochen seine Impulse 
empfing, wo alle Jahrhunderte ihre Denkmale und Erinnerungen gesetzt haben. 
Nirgends gewinnt man einen so klaren und eindringlichen Begriff von dem 
geistigen Zusammenhang aller Menschengeschichte, als in der ewigen Stadt, wo 
die Geschicke der Welt so oft gesponnen und geleitet wurden, aber auch nirgends 
drängt sich so deutlich die Ueberzeugung auf, daß das pulsirende Leben der Gegen¬ 
wart keinen Bund mit jenem „Grab der Vergangenheit" schließen kann. 
Italien lag damals wieder in seinem politischen Schlummer, aus dem es 
sich einige Jahre zuvor vergeblich zu erheben versucht hatte; man lebte in Rom 
nur der Kunst, den Studien des Alterthums und dem Genusse des südlichen 
Lebens; und nirgends läßt sich die äußere sturmbewegte Welt leichter vergessen, 
als in der Stadt des heiligen Petrus, die wie eine abgeschlossene Oase aus der
	        
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