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Zweifel werden wohl in diesem Augenblicke in keinem Lande der Welt so 
unendlich viele neue Kirchen gebaut, als in Rußland, theils weil der Zu¬ 
wachs der Bevölkerung so ungeheuer ist, und die Städte sich schwindelnd 
rasch entwickeln, theils weil an die Stelle der alten gebrechlichen meist neue, 
geschmackvolle, steinerne treten. Es giebt jetzt keine Stadt in Rußland, die 
nicht, aus der Ferne betrachtet, mit ihren vielen weißschimmernden Kirchen, 
unzähligen Kuppeln und Thürmen wie ein kleines Conftantinopel oder wie 
das hunderttempelige Fez aussähe. Ja, Ortschaften, die, in der Nähe be¬ 
trachtet, kaum für Flecken gelten würden, ihrer Holz- und Lehmhäuser 
wegen, machen in weite Ferne hinaus sür's Auge so viel Lärm, daß 
man eine Residenz vermuthet; Alles blos durch ihre zahlreichen neuen 
Kirchen. 
Diese werden nun durchweg in einem eigenen neurussisch-byzan¬ 
tinischen Style gebaut, der sich wie der alte auf eine quadratische Kirche 
mit einer großen Kuppel in der Mitte und vier kleinen aus der Seite reducirt. 
Dazu kommt dann aber als hauptsächlichste Neuerung eine Menge von Säu 
lern gewöhnlich der reichen korinthischen Ordnung, nebst einer bedeutenden 
Vermehrung der Fenster und Vergrößerung der Räume. Jetzt haben die 
Kirchen einer kleinen russischen Kreisstadt für mehr Gläubige Platz, als die 
alten Kathedralen der großmächtigen Republik Nowgorod. Die fünf Kuppeln 
der Kirche sind auch größer und gewölbter, und die Gemälde darin fallen weg, 
oder werden durch Stuccaturzierrathen*) ersetzt. Die Wände sind weiß, das 
Aeußere ist überkalkt, und zu dessen Weiß steht das Grün der Kuppeln recht 
hübsch. Fast in ganz Rußland sind diese Kuppeln, wo nicht mit Kupfer-, so 
doch mit Eisenblech gedeckt und grün angestrichen. Manche Klöster haben 
freilich noch vergoldete und versilberte Kuppeln. Am feinsten und nach 
orientalischem Geschmack äußerst schön und wohlgefällig sehen die himmel- 
blau angemalten und mit goldenen Sternen geschmückten Kuppeln aus, 
dergleichen man in Petersburg und Moskau bei mehreren Kirchen sieht. 
Säulen finden sich jetzt selbst bei den unbedeutendsten Dorskirchen 
in Fülle. Gewöhnlich läuft eine Säulenhalle um jede Kuppel; dann tritt 
eine Säulenhalle vor dem Haupteingange hervor, das Frontispice **) 
tragend. Ja zuweilen führt um die ganze Kirche ein Süulengang 
herum. 
Auf jeder der fünf Kuppeln steht ein großes vergoldetes Kreuz, jetzt 
meist ohne Halbmond und Kettenschmuck. Die Kuppeln und Thürmchen 
sind bloßer Zierrath und dienen nicht, wie unsere Kirchthürme, zu andern 
Zwecken. Die Sitte, die Uhren in den Thürmen zu haben, ist in Ru߬ 
land völlig unbekannt; auch hängt man keine Glocken in ihnen auf. Dazit 
hat man bei allen Kirchen ein eigenes Gebäude, den sogenannten „Kolo- 
tolnikJ d. h. den Glockenträger. Dieser Kolokolnik ist bei den ländlichen 
*) Man bezeichnet mit diesem Namen die aus einer weichen Masse von Gyps 
und Kalk an Decken, Wänden und Gesimsen angebrachten Verzierungen. 
**) So nennt mau den mittleren Vorsprung eines Gebäudes — die Giebelseite.
	        
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