§4. Die große Völkerwanderung. Bis zum Untergange des weström. Reiches (476). 15
gebrachten Narben durchfurcht, damit kein Bart wachse, waren sie von
häßlicher Erscheinung. Sie lebten von wilden Wurzeln und halbrohem
Fleische aller beliebigen Tiere, das sie beim Reiten auf den Rücken des
Rosses legten, um es dadurch etwas mürbe zu machen. Mit ihren
Pferden waren sie so verwachsen, daß Mann und Pferd ein Wesen zu
sein schien. Ziegenfelle und eine Kappe bildeten ihren Körperschutz.
Unter furchtbarem Geheul stürzten sie auf den Feind, den sie mit einem
Pfeilhagel überschütteten. Nicht durch einen Angriff suchten sie ihn zu
überwinden, sondern sie zerstreuten sich vor seiner Schlachtreihe und
jagten zurück, immer und immer den Anritt wiederholend, bis sie ihn
ermüdet hatten und dann mit Fangleine und Schwert übel zurichteten.
Es war das Reitervolk der Hunnen, ein Zweig der mongolischen Rasse.
Dort draußen hielten die Ostgoten unter ihrem König Ermanrich
gleichsam die Grenzwacht gegen die Völker Asiens und das Slawentum.
Ihre riesenstarken, tapferen Männer vermochten aber, nichts gegen die
hunnische Kampfesweise. Das Ostgotenreich wurde zertrümmert, und sie
selbst mußten, wie vorher schon die Alanen, den unansehnlichen, wilden
Hunnen Heeresfolge leisten. In einer Mondnacht schwammen diese auf
ihren Rossen über den Prnth und warfen sich auf die Westgoten zwischen
Theiß und Schwarzem Meer.
2. Die Westgoten und Theodosius d. Gr. Ein Teil dieser zog
sich in die Karpaten zurück, die Hauptmasse aber barg sich hinter der
unteren Donau, wozu sie vom Kaiser Erlaubnis erhalten hatte. Als
sie hier aber von römischen Beamten schlimm behandelt wurden, erhoben
sie sich. Bei Adrianopel trat ihnen Kaiser Valens mit den Legionen
entgegen. Aber er verlor Schlacht und Leben (378). Nun schloß
Theodosius einen Vertrag mit ihnen, wonach 'sie Zahrgelder und
zwischen Donau und Balkan Wohnsitze erhielten, dafür aber dem Reiche
Hilfstruppen stellten. Damals gewannen die Germanen hohe Gunst am
kaiserlichen Hofe. Ihre aus dem kalten Norden mitgebrachte Sitte
Pelze zu tragen und die Kleidung mit seltenem Pelzwerk zu verbrämen'
wurde tn Constantinopel nachgeahmt. Ihre Arme waren es ja vor allem,
welche Theodosius die Herrschaft über das gesamte Reich gewinnen
halfen. Em Jahr lang gebot er über alles Römerland zugleich (394—395).
Ehe er starb, setzte er einen Vandalenfürsten, Stilicho, dem er eine
seiner Töchter zur Frau gegeben hatte, zum Vormund seiner beiden
unmündigen Söhne, Arcadius und Honorins, ein. Von diesen sollte
jener von Constantinopel aus den Osten, dieser von Ravenna aus
den Westen regieren. Daraus entwickelte sich eine Zerreißung des
Reiches in zwei Teile.
3. Alarich. Im Jahre 395 erhoben die Westgoten Alarich, einen
Sprossen des Baltengeschlechts, auf den Schild. Er war ein recken-