§ 10. Karl der Große (768—814). Z9
ein Reich von gleichem Umfange, aber mit der vierfachen Zahl der Ein¬
wohner. An wirklicher Macht, an Männern und Waffen, war es dem
oströmischen Reiche weit überlegen. Es zerfiel in Gaue, an deren
Spitze ein Graf waltete, in kirchlicher Beziehung in Bistumssprengel.
An den Grenzen wurden häufig mehrere Grafschaften in einer Hand
vereinigt; solche Markgrafschaften waren die spanische, die
dänische, sächsische, awarische und sorbische Mark. Eine Haupt¬
stadt gab es nicht. Der Kaiser wohnte abwechselnd auf einem seiner
Gutshöfe und Schlösser (Pfalzen); am liebsten weilte er in denen, die
auf dem alten Heimatboden seines Geschlechts standen, so zu Ingel¬
heim (bei Mainz), Nymwegen und Aachen, dessen warme Bäder
seinem alternden Leibe wohl taten. Da sich Karl als das von Gott
eingesetzte Oberhaupt der abendländischen Christenheit betrachtete, hielt
er es für seine Pflicht, nicht nur die Kirche zu schützen und zu bewahren,
sondern auch das ganze Staatswesen, ja, alle Tätigkeiten seiner Völker,
große wie kleine Sachen, mit aller ihm verliehenen Kraft zu fördern.
So sandte er jährlich zwei Königsboten, einen geistlichen und einen
weltlichen Beamten, aus, in den Gauen die Amtsführung der Grafen
zu prüfen. Auf den Reichsversammlungen, deren wichtigste im
Mai (Maifeld) stattfand, wurde über alle wichtigen Gegenstände
beraten, besonders über Maßnahmen in der inneren Verwaltung und
neue Gesetze. Sonst war die Gewalt des Königtums nahezu unum¬
schränkt, zumal nachdem es mit der geweihten Kaiserwürde verbunden
war. Alle Reichsangehörigen schwuren, im Alter von 12 Jahren, den
Untertaneneid. Allgemein gültige Reichsgesetze („Die Capitularien")
wurden erlassen. Eine wesentliche Stütze der Reichseinheit bildeten die
Geistlichen. Die obersten Hofämter bestanden weiter bis auf das des
Hausmeiers. Das Stammesherzogtum war beseitigt, die Gaueinteilung
im ganzen Reiche durchgeführt. Im Heerwesen bestand die allgemeine
persönliche Wehrpflicht (ohne Sold) fort; doch wurde sie in den letzten
Jahren von Karls Regierung erleichtert, indem kleinere Grundbesitzer
zusammen für je 3 Hufen nur einen Mann stellten, ganz Arme sogar
zu fünft nur einen. Heerführer waren die Seniorkn für ihre Vasallen,
sonst die Grafen. Treubruch des Lehnsmanns und selbstwilliges Ver¬
lassen des Heeres (herisliz) wurde vor dem Königsgericht abgeurteilt.
Die Staatseinnahmen waren dieselben wie unter den Merowingern.
Für das königliche Hoflager und die Beamten waren Naturalabgaben zu
leisten. Das Recht der Münzprägung behielt sich der Kaiser allein vor.
Seit Pipin wurde der Silbersolidus zu 20 Deuareu (= V20Pfund)
geschlagen. Oberster Richter im Reiche war der Kaiser selbst, der über
die bedeutendsten Sachen und über alle, die man vor ihn brachte, im
Königsgericht Recht sprach; sonst saß in wichtigeren Dingen im Gau
der Graf dem Gericht vor, in weniger wichtigen der Schultheiß, d.h.