fullscreen: Lesebuch für die Oberstufe (Teil 4, [Schülerband])

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EV. Aus Heimat und Fremde. 
Dicht vor dem Jaffatore war ein prächtiges Zeltlager errichtet 
worden, das den kaiserlichen Zug zunächst aufnehmen sollte. Am 29. Oktober 
um die Mittagsstunde traf das Kaiserpaar am Zeltlager vor Jerusalem 
ein. Der bei tropischer Hitze zu Pferde zurückgelegte Weg war sehr be— 
schwerlich gewesen; nach einer mehrstündigen Rast hielten die Majestäten 
unter einem unbeschreiblichen Jubel der Bevölkerung ihren Einzug in die 
heilige Stadt. 
Bald hinter dem Jaffatore machte der Zug Halt; die kaiserlichen 
Majestäten begaben sich zu Fuß durch die mit Zweigen bestreuten engen 
Gassen der innern Stadt zur Grabeskirche. Hier wurden sie von den 
geistlichen Würdenträgern der verschiedenen Bekenntnisse feierlich begrüßt 
und verrichteten ein stilles Gebet an der Stätte, wo einst der Welt Hei— 
land in jener Felsengruft des Joseph von Arimathia geruht. 
Der folgende Sonntag war dem Besuche Bethlehems gewidmet, wo 
das Kaiserpaar einer Andacht in der Geburtskirche und der Einweihung 
des neuerbauten deutschen Waise nhauses beiwohnte. Nach Jerusalem 
zurückgekehrt, pilgerte es gegen Abend an dem auf dem Tempelplatze 
erbauten herrlichen Felsendome vorüber durch das Tal Josaphat, 
zum Olberge hinaus, an dessen Fuß der Garten Gethsemane liegt, 
der heute noch Olbäume trägt einst Zeugen der Leidensnacht des Er— 
lösers. 
Am 31. Oktober vormittags ward die Einweihung der Erlöser— 
kirche vollzogen, eine tiefergreifende Feier, die allen Teilnehmern unver— 
geßlich bleiben wird. Kaiser Wilhelm hielt vom Platze vor dem Altar 
aus eine Ansprache, in der er der Bedeutung der vollzogenen Weihe des 
Gotteshauses, sowie seiner innigen Frömmigkeit in herrlichen Worten 
Ausdruck lieh. „Wie vor fast zwei Jahrtausenden,“ so schloß der fromme 
Kaiser seine Ansprache, „soll auch heute von hier der Ruf in alle Welt 
erschallen, der unser aller sehnsuchtsvolles Hoffen in sich birgt: Friede 
auf Erden! Nicht Glanz, nicht Macht, nicht Ruhm, nicht Ehre, 
nicht irdisches Gut ist es, was wir hier suchen, wir lechzen, 
flehen und ringen allein nach dem Einen, dem höchsten Gute, 
dem Heile unsrer Seele. Und wie Ich das Gelübde Meiner in Gott 
ruhenden Vorfahren: „Ich und Mein Haus, Wir wollen dem Herrn 
dienen,“ an diesem feierlichen Tage hier wiederhole, so fordere ich Sie 
alle auf zu gleichem Gelöbnis.“ 
Der Nachmittag des denkwürdigen Tages bewies des Kaisers hoch— 
herzige Fürsorge für seine katholischen Untertanen. Kaiser Wilhelm hatte 
ein Gartengrundstück erworben, nördlich vom Grabe Davids, wo auch der
	        
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