Gotthold Ephraim Lessing. —2
„Seht, Schwestern, dort den Löwen schlafen!“
Schrie sie die Schwestern gaukelnd an.
„Jetzt will ich hin und will ihn strafen;
Er soll mir bluten, der Tyrann!“
3. Sie eilt, und mit verwegnem Sprunge
Setzt sie sich auf des Königs Schwanz.
Sie sticht und flieht mit schnellem Schwunge,
Stolz auf den sauern Lorbeerkranz.
Der Löwe will sich nicht bewegen?
Wie? ist er todt? Das heiß ich Wuth!
Zu mördrisch war der Mücke Degen;
Doch sagt, ob er nicht Wunder thut?
4. „Ich bin es, die den Wald befreiet,
Wo seine Mordsucht sonst getobt.
Seht, Schwestern, den der Tiger scheuet,
Der stirbt! Mein Stachel sei gelobt!“
Die Schwestern jauchzen voll Vergnügen
Um ihre laute Siegerin.
Wie? Löwen, Löwen zu besiegen!
Wie, Schwester, kam dir das in Sinn?
5. „Ja, Schwestern, wagen muß man! wagen!
Ich hätt' es selber nicht gedacht.
Auf! lasset uns mehr Feinde schlagen;
Der Anfang ist zu schön gemacht.“
Doch unter diesen Siegesliedern,
Da jede von Triumphen sprach,
Erwacht der matte Löwe wieder
Und eilt erquickt dem Raube nach
115. Sinngedichte.
Die Wohlthaten.
Wär' auch ein böser Mensch gleich einer lecken Bütte,
Die keine Wohlthat hält, demungeachtet schütte,
Sind beides Bütt und Mensch, nicht allzu morsch und alt.
Nur deine Wohlthat ein: wie leicht verquillt ein Spalt!
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