Full text: Geschichte der neueren und neuesten Zeit (Theil 3)

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war das Loos des ärmeren Landadels und der niederen Geistlichkeit, auf 
die der hohe Adel mit gleicher Geringschätzung hinabsah. Und doch wur¬ 
den gerade bei den mittleren Ständen die größte Bildung und die vor¬ 
züglichsten Talente gefunden, zumal in den größeren Städten und vor 
allen in Paris, wo die unsinnige Verschwendung der Großen sie berei¬ 
chert und ihnen die Mittel zu einer wissenschaftlichen Ausbildung ihrer 
Kinder gegeben hatte. Je mehr die mittleren Stände ihre geistige Ueber- 
legenheit fühlten, um so tiefer kränkte sie auch die unverdiente Zurück¬ 
setzung. So erzeugte sich bei ihnen eine glühende Erbitterung, zunächst 
gegen den Adel und daun auch gegen den König selbst, der ihn so sehr 
begünstigte, und immer reger wurde die Sehnsucht nach einer Verände¬ 
rung, die dem Talente eine freie ungehinderte Laufbahn eröffne. Daher 
damals jenes häufige und genaue Forschen nach dem Ursprünge des Un¬ 
terschiedes der Stände, jenes allgemeine Lästern der bestehenden Ord¬ 
nung , und jenes Hinweisen auf die Uranfänge der menschlichen Gesell¬ 
schaft zur Rechtfertigung der ursprünglichen Gleichheit und Freiheit. 
Schon vor einigen Dezennien hatten Rousseau, Voltaire und andere 
französische Gelehrte derartige Grundsätze in ihren Schriften mitgetheilt 
und das aufgeregte Volk durch verlockende Scheinwahrheiten zu den 
gefährlichsten Grundsätzen erzogen. Ihre Lehre schien durch die Unab¬ 
hängigkeit Nordamerikas die Bestätigung erhalten zu haben. Eben dieser 
nordamerikanische Freiheitskrieg, an welchem die Franzosen so warmen 
Antheil nahmen, war für sie eine Schule der patriotischen Begeisterung 
und der brennenden Freiheitsliebe, wie früher bemerkt ist. 
Zu den allgemeinen Ursachen der Unzufriedenheit und Währung un¬ 
ter dem Volke kamen noch besondere. Ludwig XVI., der seit 1774 
über Frankreich herrschte und mit Maria Antoinette, der Tochter der 
Kaiserin Maria Theresia, vermählt war, hatte von seinen nächsten Vor¬ 
gängern in der Regierung, dem kriegeslustigen Ludwig XIV. und dem 
schwachen Ludwig XV. eilte ungeheuere Schuldenlast ererbt, welche sich 
durch die Theilnahme am nordamerikanischen Kriege und die Unordnung 
im Staatshaushalte so gesteigert hatte, daß das jährliche Defizit beinahe 
die Hälfte der damaligen Jahreseinnahme betrug. Kein Wunder, daß 
Frankreichs Kredit vollends sank. Der ebele König selbst führte mitten 
unter den Verschwendungen seines Hofes das einfachste Leben und suchte 
dem Volke die Abgaben zu verringern. Da es ihm aber an Kraft und 
Strenge fehlte, der Zerrüttung des Staatswesens entgegenzutreten, so
	        
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