Full text: Für Seminarvorbereitungsanstalten und Fortbildungsschulen (Bd. 1 = Vorstufe, [Schülerband])

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336. Sanct Meinrads Raben. 
Von E. Meier. 
Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben. Stuttgart 18652. 
Der Graf Berthold von Hohenzollern im Sülichgau an der Donau war lange 
kinderlos und hatte gelobt, daß, wenn ihn Gott mit einem Sohne beglücken würde, 
er denselben der Kirche weihen wollte. Da gebar ihm seine Gemahlin ein Söhnlein, 
das den Namen Meginhard oder Meinrad erhielt und im Kloster Reichenau seine 
geistliche Laufbahn antrat. Später entwich Meinrad in ein entferntes Alpthal, baute 
sich daselbst eine Zelle und Kapelle, wodurch er den Grund zu dem berühmten Kloster 
und Wallfahrtsorte Einsiedeln legte. In dieser Einsiedelei wurde er im Jahre 861 
am 21. Januar von zwei Mördern, welche Geld und Kostbarkeiten bei ihm zu finden 
hofften, umgebracht. Bevor er aber seinen Geist aufgab, flogen Raben über ihn 
hin, von denen der heilige Mann sagte, daß sie seinen Tod offenbaren würden. 
Die Mörder aber bekümmerten sich wenig darum. Als sie jedoch später einmal mit— 
einander in Zürich vor einem Wittshause saßen und einige Raben vorbeiflogen, sagte 
der eine lächelnd zu seinem Kameraden: „Sieh', Meinrads Raben!“ Das hörte 
jemand, der vorüber ging, und zeigte es dem Gerichte an, worauf beide eingezogen, 
des Verbrechens schuldig befunden und bestraft wurden. Daher entstand auch das 
Sprichwort: „Sauct Meinrads Raben“, d. h. kein Mord bleibt verschwiegen. 
337. Englands Volk. 
Nach Nössoelt. 
Die Engländer sind eine gemischte Nation. Sie stammen von verschiedenen 
Võlkern ab, die nach einander über Britannien geherrscht baben: Briten, 
Angelsachsen, Normannen, Franzosen. Die deutsehe Abkunft ist bei ihnen nicht 
zu Verkennen und zeigt vieh besonders in ihrer Sprache. Der Engländer hat 
einen kräftigen Wuchs, blühende Gesichtsfarbe und zeigt Gefühl von Kraft und 
Wũrde in Gang und Haltung. Die Frauen sind zarter und scblanker gebaut, haben 
eine sehr weisse Haut und grosse, blaue Augen. Der englische Charakter hat viel 
Eigenthũümliches, viel Grosses und Hervorstechendes, aber wenig Liebenswũrdiges. 
Der Engländer ist ernst, kalt und stolz, besonders gegen Fremde, und für diese 
halt es schwer, sein Zutrauen zu gewinnen. Hat man dies aber einmal, so 
kann man sieh aueh auf seine Freundschaft verlasson. Er ist freimüthig, 
grossmüthig und freigebig, aber aueh selbstsũchtig und geldgierig. Von seinem 
Vaterlande hat er einen so hohen Begriff, dass er es für das erste Land der 
Prde hält; er verachtet alles, was nicht aus Alt-PEngland ist. Er ist lebhaft, 
aber besonnen, nachdenkend und von scharfem Urtheilsvermögen. Von Gast- 
freundschaft und Geselligkeit ist er kein Preund, sondern lebt mehr für sein 
Haus und seine Familie, und selbst in den höchsten Ständen wird häufiger als 
bei uns innige Liebe zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern gefunden. 
Nirgends sind die Stände weniger abgeschieden, als in England. Wenn 
bei uns der Graf oft Bedenken trägt, mit dem gemeinen Edelmanne umzu— 
gehen, und dio Baronesse sich über die Frauen der gebildeten Stände erheben 
Vill, so ist das in England ganz anders. Da sieht man keinen auf seine 
Uniform einen besonderen Werth legen, sondern jeder ist das. für was er sich 
ausgibt. 
Wer ordentlich gekleidet isß und sieh anständig führt, heisst ein Gentle— 
man, ein Ehrenmann, und in Gesellschaft wird die gefragt, welchen Titel 
jemand habe, sondern man achtet ihn nach seinem Betragen. Daber geschiebt 
es nieht selton, dass ein Lord mit seinem Schneider an einem und dem— 
selben Lustorte sich befindet; aber jenem wird es nicht einfallen, die Nase
	        
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