Vierter Abschnitt. Wilhelm I.
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lesung der Ansprache an das deutsche Volk. Am Schlüsse derselben hieß
es: „Uns aber nnd Unfern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott
verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht
an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und
Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohl-
fahrt, Freiheit und Gesittung." Kaum waren die letzten Worte
verklungen, als der Großherzog Friedrich von Baden dem neuen
Kaiser das erste Hoch ausbrachte. Tie erlauchte Versammlung stimmte
begeistert ein. und in die brausenden Rufe mischten sich die Klänge des
„Heil dir im Siegerkranz".
Die zwischen den verbündeten Regierungen vereinbarte Verfassung
des Deutschen Reiches wurde von dem ersten deutschen Reichstage
angenommen und trat am 16. April 1871 in Kraft. Sie lehnt sich an
die Verfassung des Norddeutschen Bundes an, weicht aber besonders darin
von ihr ab. daß einzelnen Staaten (Bayern und Württemberg) wichtige
Sonderrechte, namentlich in Bezug auf das Heerwesen und die Post-
und Telegraphenverwaltung, eingeräumt werden.
Das alte und das neue Reich. Das Deutsche Reich ist kein willkürlich
geschaffenes Staatengebilde, wie z. B. die kurzlebigen Vasallenstaaten Napoleons I.,
sondern das natürliche Ergebnis unserer geschichtlichen Entwicklung. Es ist keine
neue Schöpfung, sondern die Wiederherstellung' des alten Reiches. Aber
es hat diejenigen. Einrichtungen aufgegeben, welche sich entweder überlebt oder
als schädlich für den Bestand des Ganzen erwiesen hatten, und es hat diejenigen
Neuerungen angenommen, welche den Bedürfnissen unserer Nation entsprechen.
Das neue Reich ruht wie das alte auf der Kraft des deutschen Volkes.
Aber während das alte als der Erbe des weströmischen Reiches den Anspruch auf
die Weltherrschaft erhob (Römisches Reich deutscher Nation), begnügt das neue
sich mit einem festbegrenzten nationalen Gebiet (Deutsches Reich) und betrachtet
daher „die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber
auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbteil". (Aus der Thronrede bei der
Eröffnung des ersten deutschen Reichstages.) Das alte Reich, aus der engen
Verbindung mit dem Papsttum und der Kirche hervorgegangen, trug einen halb
geistlichen Charakter (heiliges römisches Reich); sein Oberhaupt führte den
1 So heißt es am Schlüsse der Thronrede Wilhelms I. an den ersten deutschen
Reichstag (21. März 1871): „Möge die Wiederherstellung des Deutschen
Reiches für die deutsche Nation auch nach innen das Wahrzeichen neuer Größe
sein!" Und die Inschrift des Nationaldenkmals auf dem Niederwald lautet: „Zum
Andenken an die einmütige siegreiche Erhebung des deutschen Volkes und an die
Wiederherstellung des Deutschen Reiches 1870—1871." — Das Wappen
des neuen Reiches ist der Doppeladler, d. h. der alte einköpfige Reichsadler mit
dem preußischen Adler auf der Brust. Die Farben sind Schwarz-Weiß-Rot
(S. 838), welche den Zusammenhang mit der deutschen Geschichte besser wahren
als die sog. alten deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold.