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Sagen-Anhang.
den Göttern die Entscheidung zu überlassen. Sie beobachteten daher den
Himmel, wem jene ein günstiges Zeichen senden würden. Der ganze Tag
verging und die folgende Nacht. Endlich erblickte Remus zuerst sechs Geier;
als er aber mit Aufgang der Sonne seinem Bruder die Freudenbotschaft
brachte, da flog vor jenem ein Zug von zwölfen vorüber. Das Recht
entschied für Remus; aber Romulus trotzte auf die doppelte Zahl, die ihm
erschienen war, als offenbares Zeichen der Gunst der Götter und baute
die Stadt.
Als sie mit Wall und Graben umgeben war, sprang Remus, der über
das erlittene Unrecht noch zürnte, spottend über die armselige Wehr; darum
erschlug ihn Romulus, und das Omen stand fest, daß niemand außer zu
seinem Verderben die Mauern übersteigen werde. Doch versank Romulus
in Gram, verweigerte Trost und Speise, bis Remus’ Geist den Pflegeeltern
erschien und seine Versöhnung zusagte. Zu bleibender Ehre ward ein
zweiter Thron mit Scepter, Krone und Abzeichen neben dem des Königs
aufgestellt.
9. (S. 57.) In der neuen Stadt fand jeder Wildfang Aufnahme:
Verbannte und wegen Totschlags Landflüchtige, sogar entronnene Sklaven
und Missethäter waren willkommen. Da nun den ledigen Gesellen die
Frauen fehlten, so ließ Romulus festliche Auszüge und Wettkämpfe aus¬
rufen und die latinischen und sabinischen Nachbarn dazu einladen. Es
kamen viele; doch das Gastrecht schützte die Betrogenen nicht, und ihre
Jungfrauen wurden geraubt. Der fabinifche König Titus Tatius führte
ein mächtiges Heer gegen Rom. Romulus, unfähig im Felde zu wider¬
stehen, wich in die Stadt zurück. Das Gold, womit die Sabiner an Arm¬
geschmeiden und Halsketten geschmückt waren, blendete Tarpeja: um solchen
Preis öffnete sie ein Thor der Festung, die dem Befehl ihres Vaters
anvertraut war. Erdrückt von der Last des auf sie geschleuderten Schmuckes,
büßte sie ihr Verbrechen mit dem Tode. Die beiden Heere wurden hand¬
gemein, und das Kriegsglück neigte sich bald zu dem einen, bald zum
andern: da stürzten sich die Sabinerinnen, Aussöhnung ihrer Gatten und
Väter wünschend, zwischen die streitenden Heere und stifteten Frieden. So
hatten die Frauen Rom gerettet.
10. (S. 57.) Als die Heere von Alba Longa und Rom sich feindlich
gegenüberstanden, verglichen sich die Fürsten dahin, daß ein Zweikampf
die Schlacht ersparen sollte. Es waren in jedem Heere drei Brüder, gleichen
Alters, die Söhne von zwei Schwestern, die Horatier und Curiatier.
Jene waren Römer, diese Albaner. Sie sollten an Stelle des ganzen
Volkes kämpfen. Zwei Horatier fielen, der dritte stand unverletzt gegen
drei Verwundete und ward ihrer durch List und Gewandtheit Meister.
Ihm begegnete und ihm fluchte die verzweifelnde Schwester am Thore
der Stadt, als er, vom frohlockenden Heere geleitet, die Waffenstücke der
Erschlagenen, deren einer ihr Verlobter war, auch den Mantel, den sie selbst
gewirkt hatte, dahertrug: Wut ergriff ihn, und sie fiel von feiner Hand.
Die Blutrichter verurteilten ihn zum Tode von Henkershand; das Volk
schenkte ihm das Leben.