Erster Kreuzzug. Eroberung von Jerusalem. 
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doppelte, hohe und starke Mauer und 60,000 wehrhafte Ver¬ 
theidiger ; die Kreuzfahrer selbst aber waren nicht stärker, so sehr war 
das ungeheure Heer zusammengeschmolzen, und von den 100,000 
Pferden, die beim Eintritte in Klein-Asien noch gezählt wurden, 
waren jetzt nur 1500 übrig! — Die Ungeduld der Kreuzfahrer 
war so groß, daß sie ohne Belagerungsmaschinen schon am fünften 
Tage gegen die Mauer anliefen; natürlich wurden sie mit blutigen 
Köpfen abgewiesen. Nun aber zerstreute sich das Heer. Alle, jung 
und alt, fällten Baumstämme, schleppten sie aus weiter Ferne herbei 
und halsen Kriegsmaschinen bauen. Bald erhoben sich auch zwei 
hohe hölzerne Thürme, die durch Räder fortbewegt werden konnten 
und aus drei Stockwerken bestanden, von deren mittlerm eine Fall¬ 
brücke nach der Stadtmauer hinübergeworfen werden konnte. End¬ 
lich war alles zum Sturme bereit. Da wurde dem ganzen Heere 
ein allgemeiner Bußtag angesagt. Nachdem sich alle mit ihren 
Widersachern versöhnt hatten, zogen sie in feierlicher Procession, 
die Geistlichen mit dem Kreuze voran, rings um die Stadt herum, 
unter feierlichen Gesängen, und flehten den Allmächtigen um Bei¬ 
stand an. Aber auf den Mauern standen die Sarazenen und ver¬ 
spotteten die heiligen Gebräuche. Sie äfften die Geberden der Um¬ 
gehenden nach und warfen Pfeile und Steine in die Reihen der 
Andächtigen. Nichts empört unser Gemüth so tief, als wenn 
unsere Religion verspottet wird. Daher entbrannten die Herzen 
der Kreuzfahrer vor Wuth gegen die nichtswürdigen Türken und 
waren nun des Beistands des Himmels gewiß. Die Nacht wurde 
unter Gebeten und Beichten hingebracht und am andern Morgen, 
den 14. Juli 1099, begann der Sturm. Daß die Kreuzfahrer mit 
wüthendem Grimme angelaufen sind, versteht sich von selbst; aber 
alle Tapferkeit half nichts Legen die verzweifelte Gegenwehr der 
Belagerten. Diese schleuderten Pfeile, Steinmassen, Balken, ja 
siedendes Pech auf die Köpfe der Anrennenden herab, und als der 
Abend hereinbrach, mußten sich diese zurückziehen. Am folgenden 
Tage wurde der Angriff mit verstärkter Wuth erneuert. Aber alles 
vergebens. In Strömen rinnt der Schweiß von den erschöpften 
Kreuzfahrern; vor Mattigkeit sinken ihnen die Kniee zusammen und 
auch dem Tapfersten fällt der Muth. Schon durchläuft ein Ge¬ 
murmel die Glieder, daß hier alle Anstrengung vergebens und nur 
in der Flucht Rettung zu suchen sei. Da erscheint plötzlich aus 
der Spitze des Oelbergs ein gewappneter herrlicher Ritter in wei߬ 
strahlender Rüstung. Den glänzenden Schild streckt er aus über
	        
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