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wo sie über Nacht bleiben wollte, standen elf kleine weißgekleidete Mäd—
chen, die Blumen streuten. Die Königin sprach so freundlich mit den
Kindern, daß sie bald ganz zutraulich wurden und auf ihre Fragen
unbefangen antworteten. Wie die hohe Fürstin sich nun so mit den
Kindern unterhielt, fragte sie auch: „Wie viele seid ihr denn, Kinderchen?“ 5
— „Ja,“ sagte ein kleines Mädchen, „erst waren wir zwölf. Aber ein
Kind sah so häßlich aus, da haben sie es fortgeschickt, daß du es nicht
sehen solltest.“ — „Ach, das arme Kind!“ rief die Königin, „es hat sich
gewiß auf meine Ankunft gefreut und sitzt nun zu Hause und weint.“
2. Eiligst lief ein Bote und holte das Mädchen. Noch standen 10
ihm die Tränen in den Augen, als es kam, und ängstlich schaute es zu
denen auf, die es fortgeschickt hatten. Die Königin aber bückte sich zu
ihm nieder, umschlang es mit beiden Armen und sprach mit milden
Worten: „Weine nicht mehr, mein liebes Kind! Siehe, ich habe dich
ebenso lieb wie die andern hier. Sei uur immer brav und gut, allen 15
guten Kindern gehört ja Gottes Himmelreich!“ Dabei drückte sie einen
herzlichen Kuß auf die Wange des Mädchens. Alle Umstehenden waren
gerührt. In vielen Augen standen Tränen, und noch lange nachher sprach
man von der Güte der edeln Königin Luise.
Friedrich Rulemann Eylert. (Charakterzüge.) 20
227. Preundlichkeit der Königin Luise.
1. An einem EFrühlingstag ging die Königin Luise in dem Lust-
garten spazieren, der in Potsdam nahe am Schlosse gelegen ist.
Hier sah sie auf einer Bank einen blassen, hageren Mann sitzen.
Seine Gestalt war zusammengeknickt, sein Auge matt, sein Wesen 25
erschöpft und elend. Von Mtleid ergriffen, sendete die Königin
schnell einen Bedienten mit einigen Goldstücken zu ihm. Als aber
der Bediente dem Kranken die Gabe reieht, schüttelt dieser den
Kopf, weiset die Gabe zurück und spricht mit matter Stimme: „leh
bin nicht arm!“ 30
2. Die Rönigin erfuhr das. Es schmerzte sie die Besorgnis,
daß sie den Mann mit dem Almosen gekränkt habe. Schnell kehrte
sie um und wandte sich an den Unbekannten. „Iech habe Ihnen
nicht wehe tun wollen,“ sagte sie mit teilnehmender Stimme. Doer
Mann stand gerührt vor seiner Königin. „Wenn Sie nicht arm sind, 35
so sind Sie krank,“ fuhr diese fort. „Kann ich Ihnen mit Geld nicht
helfen, so kann ich vielleicht etwas zu Ihrer Genesung tun. Sagen
Sie es mir!“ — Nun erzählte der Mann, daß er den Winter über
schwer danieder gelegen habe, und dab er sich jetzt bei seinem
ersten Ausgange in der warmen Frühlingsonne erquicke. Es war 40
ein wohlhabender Bürger Potsdams. — „So werde ich Ihnen Er-
frischungen senden,“ sagte die Königin. „Der König liebt die guten