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Hierzu kam grobe Sinnlichkeit und frecher Witz, durch welche die kirchliche Kunst,
die Verehrung der Heiligen und die Feier der Feste entweiht wurden. Auch
die Spitzfindigkeit der Scholastiker (S. 164) wirkte übel ein und ent-
stellte mehr und mehr die Lehre des Evangeliums. Maria galt beinahe
mehr, als Gott und Christus. Man dachte sie als das Herz der Drei-
einigkeit; sie wurde die Hauptperson, die drei Personen der Gottheit erschienen
wie Nebenpersonen. In demselben Sinn trat die Person des Erlösers insbe-
sondere wieder hinter ihrem Sinnbild, der Hostie, zurück, und geputzte
Marien und ausgestellte Reliquien nahmen die Hauptandacht in An-
spruch (S. 121).
Aberglaube Das Volk ließ man in Unwissenheit dahin wandeln: statt der trost-
des Volkes, reichen Predigt aus dem Worte Gottes bot man ihm die Erzählung von
fabelhaften Legenden, statt der erhebenden Feier der Heiligen Sakramente
die gedankenlose Verrichtung vorgeschriebener Zeremonien und äußerlicher
Werke. Vielfach wurden Reliquien betrüglich angefertigt und um der vielen
falschen willen sind später auch die ächten verhöhnt und vernichtet worden.
Dazu kamen die rohen Possenspiele, die von den Geistlichen meistens selbst
zum besten gegeben wurden, die frechen, burlesken Predigten, die Kanzel-
schwänke, die Narren- und Eselsfeste und andere Schauspiele unwürdiger Art.
Am meisten aber empörte der Ablaß. Seit die Kreuzzüge aufge-
hört, hatten die Päpste verordnet, wer zum Jubeljahr (das erste "war 1300)
nach Rom wallfahre und auf St. Peters Altar ein Opfer niederlege, solle
so viel Ablaß haben, als ob er zum Heiligen Grabe gewallfahrt wäre.
Anfangs sollte "das Jubeljahr nur alle hundert Jahre gefeiert werden; da
es aber sehr viel Geld eintrug, wiederholte man es schon nach 50, dann
nach 33 und endlich nach 25 Jahren. Unzählige Gläubige strömten nach
Rom, 'wo man das Geld mit Rechen von den Altären wegstrich. Da nun
aber doch nicht alle nach Rom wallfahren konnten, sorgte der Papst dafür,
daß der Ablaß den Leuten ins Haus geschickt wurde. Das Geschäft wurde
den Bettelmönchen (S. 132) anvertraut, weil sie mit dem Volk am besten
umzugehen wußten. Nun wurde die Sache vollends zur Marktschreierei,
wie Tezel und andere Ablaßkrämer beweisen.
2. Wie es aber zu keiner Zeit in der Kirche an Männern gefehlt hat,
welche gegen die herrschenden Mangel auftraten, so erstanden auch zu einer
Zeit, wo die Gefahr, das reine Christentum erdrückt zu sehen, immer
drohender wurde, zahlreiche Streiter für die reine Lehre. Zu solchen
Mystiker u.haben wir die bereits früher genannten Mystiker (S. 164), Tauler in
Humani- Straßburg und Thomas a Kempis zu rechnen. In ihre Fußtapfen traten
fl£n- die Humanisten. So Johann Wessel (f 1489), der sich in Heidelberg
stark gegen die Mißbräuche der Kirche aussprach und das Studium der
Bibel empfahl. Er zeichnete sich auch durch große Sprachkenntnisse aus,
wurde darin aber noch, ebenso wie in dem Widerspruch gegen die kirchlichen
Zustände, von Renchlin und Erasmus von Rotterdam (S. 165) übertroffen.
So lange sich die Sprachstudien nur auf lateiuische,und griechische
Klassiker erstreckten, da nahm die Kirche an ihnen wenig Anstoß, als sie
sich aber auch mit dem griechischen und hebräischen Urtext der Bibel be-
schästigten, da begann ihre Verfolgung durch die Geistlichkeit. Man fürchtete
eben von einem ernstlichen Forschen in der Bibel, daß es die Unfehlbarkeit
der päpstlichen Satzungen erschüttern könne.