Übersicht über die Zeit von 1871 an.
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Huf dem vatikanischen Konzil im Jahre 1870 gelang es, das Dogma Unf2ar*
von der Unfehlbarkeit des Papstes (Infallibilität) durchzusetzen, viele
Bischöfe, die sich gegen diese Festsetzung gesträubt hatten, beugten sich
schließlich unter die unumschränkte Papstgewalt. Nur eine Verhältnis-
mäßig geringe Zahl von Katholiken verwarf das Dogma und schloß sich
später unter der Führung des Gelehrten Jgnaz von Döllinger zu der
Gemeinde der Mkatholiken zusammen. Da die verschiedenen deutschen
Regierungen die Anerkennung der vatikanischen Beschlüsse verweigerte,
kam es zum Kampf zwischen Staat und Kirche.
Zum Schutze der römischen Kirche bildete in Deutschland sich schon ^Uur-
Ende des Jahres 1870 eine große Partei, die nach ihrem Sitz im Reichstag
Zentrum heißt. Sie forderte vollständige Selbständigkeit der Kirche. Als
Preußen dies verweigerte und alle diejenigen, die die vatikanischen Be¬
schlüsse nicht anerkannten und von der Kirche deshalb gemaßregelt wurden,
in ihren Schutz nahm, brach der sogenannte Kulturkampf aus. Die
Rechte des Staates wurden mit aller Schärfe von Bismarck und dem
Kultusminister Falk betont. Zuerst wurde die unter Friedrich Wilhelm IV.
eingerichtete katholische Abteilung im preußischen Kultusministerium auf¬
gehoben. Dann stellte ein „Kanzelparagraph" alle Geistlichen, die den
Gottesdienst zu politischer Agitation gebrauchten, unter Gefängnisstrafe.
Außerdem wurden die diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan ab¬
gebrochen und der Jesuitenorden in ganz Deutschland verboten. In den
,Maigesetzen" forderte der Staat eine nationale Erziehung der katholischen
Geistlichkeit. Diese aber setzte ihnen einen hartnäckigen Widerstand ent¬
gegen. Erst durch das (Entgegenkommen des Papstes Leos XIII. ge¬
stalteten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und der Kurie friedlicher.
§ 112. Die soziale Frage bis 1888. Seit dem mächtigen Aufstieg ung^tige
der Industrie war die Lage der Arbeiter vielfach ungünstig geworden. Lage
Das Einkommen war unsicher. Die allgemeine Lage der Industrie oder " 1 61
die persönlichen Verhältnisse des Arbeiters, wie Krankheit, Schwäche,
Alter, konnten jederzeit die Entlassung herbeiführen. Der Lohn reichte
vielfach nicht hin, um die notwendigsten Bedürfnisse zu beschaffen, viele
Betriebe waren gesundheitsschädlich. Kinder und Frauen wurden im Über¬
maß beschäftigt, die Arbeitszeit war sehr lang, die Lohnzahlung geschah
oft in Naturalien oder Waren, die sich schwer absetzen ließen. Infolge
dieser Verhältnisse traten nun Männer auf, die, wie Marx und Lassalle,
meinten, die Arbeiter könnten, solange die Fabrikbesitzer und Seldleute
(Kapitalisten) die Herrschaft hätten und durch den Staat unterstützt
würden, ihre Verhältnisse nie verbessern. Nur wenn sie sich der Herr-
schaft bemächtigten und die Produktion regelten, könne das geschehen.
Es bildete sich bereits vor 1870 die sozialdemokratische Partei, als Zweig,ozwidemo-
der „Internationale", die durch völlige Änderung der bestehenden Ge-