Deutsches Geistesleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 159
leben in seiner Hand. Hat er der Natur ihre Entwicklungsgesetze gegeben,
so führt er auch die Menschheit in allmählichem Stufengange — aber
doch so, daß jede Zeit, jedes Volk eine durchaus individuelle Erscheinung
ist, die ihren Mittelpunkt hat in sich selbst — zu dem von ihm gesetzten,
uns verhüllten Ziel. So erweckt Herder das Verständnis geschichtlichen
Lebens, geschichtlicher Entwicklung, die mit dem Verstände zu begreifen
unmöglich ist. Nur lauschen soll der Mensch dieser ewigen Symphonie,
„ausfangen die von der Riesenharfe der Schöpfung hinausdröhnenden
Klänge in einer verständnisvoll begreifenden Seele." So überwindet er
die bloß vernünftige Weltbetrachtung durch eine neue Anschauung von der
Gesamtheit aller Dinge, deren Kern und Inhalt die Wirklichkeit selbst ist
in Natur und Geschichte.
Der Menschenbildung aber weist er prophetisch ein neues Ideal, das
der Humanität. Nicht auf das Äußere und Verstandesmäßige kommt
es ihm an, auf das Innere und „Naiv-Ursprüngliche", nicht auf mechanische
Schulung, sondern auf organische Entwicklung alles dessen, was im
Menschen an Anlagen zu Vernunft und Freiheit, an feineren Sinnen
und Trieben liegt, was ihn seiner Bestimmung, Ebenbild des Schöpfers
zu werden, näher bringt. Der humane Mensch vereinigt in schöner Har-
monie Friedlichkeit, Liebe, Mitgefühl, Gerechtigkeit und Wahrheit, Wohl-
anständigkeit und — die höchste Humanität — Religion. So wird der
„Seelendeuter der Geschichte" zum Seher und Künder eines neuen und
doch so alten Menschheitsideales.
c) Was Herder geahnt, die drei großen Geistesheroen unserer klassischen
Zeit haben es zur Erfüllung gebracht: Kant, der Philosoph, Schiller,
der Idealist, Goethe, der Dichter und der Mensch.
et) Die sich allweise dünkende Vernunft hatte den Anspruch erhoben,
alle Welträsel lösen zu können. Kant, die Erscheinungswelt kritisch
untersuchend, zerstört diesen Wahn. Der Spiegel unseres Inneren gibt
kein getreues Bild der Außenwelt. Entspricht etwa der Baum, dessen
Wahrnehmung wir in uns haben, dem Baum draußen in der Natur?
Offenbar ist das Bild nicht der Gegenstand selbst. Wie aber macht es
der Baum, sich in uns abzubilden, wie kann er, zwerghaft verkleinert, in
unser Bewußtsein hinein? Und ist es nicht vielmehr so, daß wir nur die
Anschauung vom Baume haben, aber nichts wissen vom Baume an sich?
Donner und Blitz erschrecken uns im Gewitter, und wir behaupten
zwischen beiden Erscheinungen einen ursächlichen Zusammenhang. Und
doch haben wir nichts als eine Schall- und eine Lichtempsindnng. Wie
macht es nun der Lichteindruck, der Seele zu erzählen, daß ein Laut-
eindruck ihm unmittelbar folge, ja, daß er mit ihm zusammengehöre?
Wie macht es der Lauteindruck, zu erzählen, daß er nichts in sich Selb-