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Der oströmische Kaiser JustiniLn, der das römische Gesetz¬
buch zusammengestellt und die berühmte Sophienkirche, jetzt Hof-
moschee des Sultans, in Konstantinopel erbaut hat, faßte den
Plan, ihren Staat zu vernichten. In einer Bergfeste des heutigen
Marokko schloß sein tüchtiger Feldherr BÄisar den von der Sage1
verherrlichten letzten Vandalenkönig Gelimer (= „freudig berühmt")
ein und zwang ihn zur Üebergabe, 534. Wie unter einem Fluche
verschwand das germanische Volk aus der Geschichte. Ms ent¬
artete Nachkommen gelten noch wohl die hochgewachsenen
Kabylen an der marokkanischen Felsenküste oder die Wandscha
auf den kanarischen Inseln.
7. Das Ende des weströmischen Reiches. „Wo ein Volk im
Mark verdorben, ist es reif zum Endgericht!" (Gerot). Gerade
ein Vierteljahrhundert nach der Hunnenschlacht auf den kqtalau-
nischen Feldern vollzog sich der letzte Auftritt in dem großen
Trauerspiel der Zertrümmerung des römischen Reiches.
Als Schattenkaiser saß auf dem Throne der Cäsaren der junge
Romulus; Augnstulus, den kleinen Angustus, nannte ihn der Spott.
germanischer Heerführer OdoLkar (Ottokar — Stamm-
^ ' O Hüter), der mit seinen Söldnern in römischen Diensten stand,
stieß den siebzehnjährigen Jüngling hinunter und errichtete auf dem
Boden Italiens ein germanisches Königtum.
Rom selbst, einst der glänzende Mittelpunkt eines Weltreiches,
war nur noch eine elende Trümmerstadt mit etwa 20000 ver¬
armten Einwohnern: das Abbild des untergegangenen Altertums.
Wir aber gedenken hier des tiefsinnigen Wortes des Ge¬
schichtschreibers Giesebrecht: „Die Germanen haben das römische
Reich zerstört nicht weil sie wollten, sondern weil sie
mußten!"
8. Theoderich und die Ostgoten.
„Erwache, mein Knabe, ich grüße dich,
Du König der Goten, jung Dieterich!"
So läßt der Dichter? den treuen Gotenkrieger zu dem Kinde
sprechen, das er auf schneller Flucht vor den Hunnen gerettet hatte.
Und das Kind wurde groß und ein „Volksfürst", wie sein Name
bedeutet. Theoderich führte sein Volk im Aufträge des ost¬
römischen Kaisers von der unteren Donau durch die Alpentäler
nach dem begehrten Italien und schlug den Odoaker entscheidend
bei Verona. Im Volksmunde heißt er daher '„Dietrich von
Bern" (= Verona). Nach der in der Sage besungenen „Raben-
1 Simro ck, Drei Bitten. — 8 Dahn, Gotentreue.