Full text: Vom Westfälischen Frieden bis auf unsere Zeit (Teil 5)

78 Das Zeitalter d. Zerstörung d. alten Reichs u. fc. Entstehung d, neuen deutschen Kaisertums. 
hinbrachte. Nicht anders lebte im Genüsse ihrer reichen Pfründen die 
höhere Geistlichkeit, während die niedere, arm und gedrückt, mit 
ihren Sympathien ganz auf der Seite der unteren Klassen stand. 
So war denn der wesentliche Charakterzug des damaligen Frankreichs 
Ausbeutung des Staates zugunsten einerseits der Krone, andrer- 
seits der bevorrechteten Stände; daraus erklärt sich der erbitterte Haß 
der unterdrückten Volksschichten gegen die bestehenden Zustände. Von 
wesentlicher Bedeutung aber ist es, daß zu gleicher Zeit auch unter den 
herrschenden Klassen auf theoretischem Wege sich die Überzeugung von der 
UnHaltbarkeit des Bestehenden verbreitete. Dies war das Werk der Auf- 
kläruugsliteratur. 
§. 64. Die Aufklärungsliteratur. Die Litera^ur-des--achtzehnten 
Jahrhunderts wird einerseits dadurch gekennzeichnet, daß sie den Zwang, 
den die historisch überlieferten Zustände ausübten, zu brechen und der 
Persönlichkeit des einzelnen Menschen zur Freiheit zu verhelfen strebt, 
daher ihr Charakter ein wesentlich individualistischer ist; andrer- 
seits dadurch, daß sie von der Überzeugung beseelt ist, man könne, allein 
von der Vernunft ausgehend, unter Mißachtung des historisch Gegebenen 
auf Grund des „Naturrechts" eine ideale Ordnung der Verhältnisse 
schaffen, daher ihr Charakter zugleich ein rationalistischer und 
o p t i m i st i s ch e r ist; eine ähnliche Geistesrichtung beherrschte damals 
die englische und die deutsche Literatur, und mit ihr beginnt eine neue 
Periode wissenschaftlichen Denkens. Aber während die klassische deutsche 
, Literatur an einer positiven sittlichen Weltanschauung festhielt, überwog 
in Frankreich die negative, die skeptische und zerstörende Tendenz. 
1694*'bis Den skeptischen Geist seines Zeitalters vertritt vor allem %LpJ tair e. 
1778. In der Zeit der Regentschast war er in die vornehme Welt von Paris ein-/ 
getreten, hatte dann mehrere Jahre in England zugebracht, dessen Literatur 
und Staatsleben aus ihn den größten Eindruck machten, und lebte später 
zv - , y jahrelang in wissenschaftlicher Zurückgezogeuheit auf einem lothringischen 
, Schloß; von 1750—52 war er der Gast Friedrichs deZ Großen in Pots- 
dam; seine letzten zwanzig Lebensjahre verbrachte er in Ferney bei Genf. 
Er war ein äußerst geistreicher, vielseitiger und witziger, aber auch srivoler 
Schriftsteller, der Verfasser des Epos La Henriartof Dramatiker, Roman¬ 
schriftsteller, Satiriker, Philosoph uud Mathematiker, endlich der erste 
moderne Historiker, der Kulturgeschichte schrieb. Seine Lebensaufgabe fand 
er in dem rastlosen Kampfe gegen Kirche und Kirchenglauben; iu der 
letzten Periode seines Lebens erhob er sich zu einer gewissen Größe, indem
	        
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