Full text: Geschichte des deutschen Volkes

144 Gestaltung des Reichs nach dem Jall der Staufer. Das Interregnum. §§ 203—204. 
§ 203. Aber der einmal betretene Weg der Zersetzung ward folgerecht 
und wie mit einer gewissen inneren, vergeltenden Gerechtigkeit weiter verfolgt. 
Wie die einst das Ganze umfassende oberherrliche Kaisergewalt vor der auf- 
strebenden Selbständigkeit der Reichsstände unterlegen war, so sahen sich 
diese bald ebenso beschränkt durch ihre Landstände, d. i. durch Adel, 
Geistlichkeit und Städte, die nicht unmittelbar reichsfrei, sondern einer 
bestimmten landesherrlichen Gewalt, etwa einem Herzog, Markgrafen oder 
Bischof, untergeben waren. Auch diese strebten nach möglichst großer Selb- 
ständigkeit, und die innere deutsche Geschichte dieses Zeitraums ist wesentlich 
ein Kampf der größeren Reichsstände unter sich um Macht und der kleineren 
Reichsstände und Landstände gegen jene um das, was sie ihre Libertät, 
ihre Freiheit, nennen. Der uralte Trieb der Deutschen, sich in spröder 
eigenwilliger Selbständigkeit zu vereinzeln (§ 14), der seit Karl dem Großen 
durch die Reichsgewalt gezügelt war, trat mit ursprünglicher Gewalt wieder 
hervor, mit dem Unterschiede jedoch, daß er jetzt nur noch einem Stande, 
dem Adel — und außer ihm höchstens noch den ummauerten Städten — 
eigen sein konnte. Trotz des oft erneuten Landfriedens, der die Selbst- 
Hilfe des einzelnen verbot, nahmen die Reichsstände schon längst das Fehde- 
recht in Anspruch, d. h. das Recht, nach zuvor geschehener ordnungsmäßiger 
Aufkündigung des Friedens mit gewaffneter Hand für ihre Ansprüche 
einzutreten. Bald aber forderten auch die Landstände dieses Recht; jeder 
Ritter auf seiner Burg, zuletzt fast jeder freie Mann, wollte seine 
Absagebriefe senden können. Natürlich waren solche Fehden oft nur die 
schlecht verhüllenden Masken für die Raublust der Mutigen und Starken. 
Je mehr das Rittertum entartete, desto mehr ward „vom Stegreif leben" 
adeliges Handwerk. Die meisten Burgen wurden Raubnester, die über den 
Land- und Wasserstraßen drohten: von ihnen herab überfielen gewappnete 
Haufen den friedlich daherziehenden Kaufmann. Niemand war da, solchen 
Frevel zu strafen, und nur durch Bünde konnten sich die Schwachen gegen 
den Feind schützen. Ein Krieg aller gegen alle schien die Losung zu werden: 
das war die „kaiserlose, die schreckliche Zeit", die Zeit des Faustrechts, 
wie man sie bezeichnend genannt hat. Das Gefühl für Ordnung und Recht, 
das Gefühl für die gemeinsame deutsche Ehre hörte auf. An die Stelle 
der Freiheit war in Deutschland die Willkür, an die Stelle der natürlich 
gewachsenen Stämme dynastische Zersplitterung, an die Stelle der alten Macht 
völlige Bedeutungslosigkeit unter den Völkern Europas getreten. 
§ 204. Lange Jahre blieb nach dem Falle der Staufer das Reich ganz 
ohne wirkliches Oberhaupt, wenngleich es dem Titel nach an Königen nicht fehlte. 
Dies ist die Zeit des sogenannten großen Interregnums. Nach Konrads IV. 
Tode (§ 175) blieb noch sein Gegenkönig übrig, der junge Wilhelm von 
Holland (§ 174), der aber, hauptsächlich von den geistlichen Fürsten gewählt 
und gestützt — der Papst nannte ihn „unser Pflänzlein" —, im Reiche 
ohne Bedeutung war. Als er im Interesse seines gräflichen Hauses einen 
Zug gegen die Westfriesen unternahm, brach er mit seinem schweren 
Schlachtrosse durch das Eis, und die ergrimmten Bauern, die ihn 
nicht kannten, schlugen ihn tot (1256). Keiner der mächtigen deutschen 
Fürsten bewarb sich jetzt um die entwertete Krone; nur Fremde lockte der 
Glanz des alten Titels. So verkaufte der Erzbischof von Köln seine 
Stimme und die seines Anhangs an den Bruder des englischen Königs, 
Richard von Cornwallis, der Erzbischof von Trier die seinige an den 
König Alfons von Kastilien, einen Verwandten des staufischen Hauses.
	        
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