§ 70. Rückblick.
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Staatswesen den Todesstoß gab. Den neuen Staaten, welche auf den
Ruinen erwuchsen, gab das Lehnswesen die Form. Die Verbindung
des germanischen Staatswesens mit der christlichen Kirche trat zu-
erst hervor in dem großen fränkischen Reiche, welches unter Karl
dem Großen die meisten kulturfähigen Völkerschaften umfaßte, dann
aber sich in ein ostfränkisches (deutsches) und ein westfränkisches (ftanzö-
sisches) Reich teilte. Nachdem Heinrich I. das deutsche Reich in
seinen Grundformen gefestigt hatte, erneuerte Otto I. die Verbindung
mit Rom und bestimmte dadurch die ganze folgende EntWickelung.
Rasch stieg das Reich auf den Gipfel seiner Macht. Aber die ita-
lienischen Sorgen hinderten die Kaiser vielfach, den deutschen Auge-
legenheiten ihre volle Kraft zuzuwenden; die deutschen Fürsten pflegten
ihre Sonderinteressen aus Kosten der Reichsgewalt; die Germanisie-
rung des Ostens geriet ins Stocken; Italien wurde das Grab der
Deutschen.
Schon unter Heinrich 1Y. begann der unausbleibliche Kampf
zwischen Kaisertum und Papsttum, der mit dem Untergange
der Hohenstaufen und der Zerrüttung des Reiches endigte. Zugleich
trat die christliche Welt in den Kreuzzügen in den Kampf gegen
den Islam, welcher, in Arabien entstanden, in allen drei Erdteilen
Boden gefaßt und eine eigenartige Kultur mit sich geführt hatte.
Die Zeit der Kreuzzüge ist die der höchsten Kulturentfaltimg des
Mittelalters. In den beiden letzten Jahrhunderten zeigt sich auf den
meisten Gebieten ein Sinken der mittelalterlichen Welt. Nur die
Städte erfreuten sich wenigstens in materieller Beziehung eines gedeih-
lichen Wachstums; sie hatten sich, seitdem sie mehr oder weniger nn-
abhängig geworden waren, emporgearbeitet zu Bildung, Wohlstand
und Macht und konnten nicht nur gegen die Ritter, die seit dem
13. Jahrhundert entartet waren und ihre frühere Bedeutung verloren
hotten, sich erfolgreich verteidigen, sondern auch gegen die Reichs¬
fürsten ihren Einfluß geltend machen.
Das deutsche Reich hatte sich in Einzelstaaten aufgelöst, deren
Führung der größte unter ihnen, dos leider nur halb deutsche Öfter-
reich, übernahm, während im Norden der Keim gelegt wurde zu einem
anderen Großstoate, der zur Führung Deutschlands in späteren Jahr¬
hunderten berufen war.
Wir teilen das Mittelalter in fünf Perioden:
I. Von 375 bis 568. Die Zeit der Völkerwanderung und
Staatenbildung.
II. Bis auf Heinrich I., 919. Die Zeit des Frankenreiches.
Christensen, Grundriß der Geschichte. II. B. 3. Aufl. g