Die letztwilligen Aufzeichnungen Kaiser Wilhelms I. 127
Maße. Bezeichnend für diese Pflichttreue ist das berühmt gewordene
Wort, das er am Tage vor seinem Tode sprach: „Ich habe jetzt keine
Zeit, müde zu sein!"
Die letztwilligen Aufzeichnungen Kaiser N)ilhelrns I.1)
Auf Befehl Sr. Majestät Kaiser Wilhelms II. ist folgender Auszug
aus den letztwilligen Aufzeichnungen Kaiser Wilhelms I. im Reichsanzeiger
veröffentlicht worden. Sie „enthalten ein herrliches Zeugnis erhabener
Seelengröße und edeln, frommen Sinnes". Der Auszug hat nachstehenden
Wortlaut:
1. Koblenz, den 10. April 1857. Im Glauben ist die Hoffnung! Be-
fiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf Ihn, Er wird es wohl machen!
Herr, Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden! Wenn diese Schrift
in die Hände der Meinigen fällt, gehöre Ich zu den Abgeschiedenen. Möchte
es Mir vergönnt sein, in Meinen letzten Lebensstunden Meinen Geist den
Händen Meines Gottes zu empfehlen! Möchte es Mir vergönnt sein, von
Meinen teuern Mich Überlebenden Abschied nehmen zu können! Sollte ein
jäher Tod Mich ereilen, so möge Mein ganzes Leben eine Vorbereitung für
das Jenseits gewesen sein! Möge Gott Mir ein barmherziger Richter sein!
Ein viel bewegtes Leben liegt hinter Mir! Nach Gottes unersorschlicher
Fügung haben Leid und Freude in stetem Wechsel Mich begleitet. Die schweren
Verhängnisse, die Ich in Meiner Kindheit über das Vaterland einbrechen
sah, der so frühe Verlust der unvergeßlichen, teuern, geliebten Mutter er-
füllte von früh an Mein Herz mit Ernst. Die Teilnahme an der Erhebung
des Vaterlandes war der erste Lichtpunkt für Mein Leben. Nie kann Ich es
Meinem heißgeliebten König und Vater genugsam danken, daß er Mich teil¬
nehmen ließ an der Ehre und dem Ruhm des Heeres. Seiner Führung,
Liebe, seiner Gnade danke Ich ja alles, was er Mir bis zu seinem Tode
vertrauensvoll erwies. Die treueste Pflichterfüllung war Meine Aufgabe in
liebender Dankbarkeit, sie war Mein Glück. Dem Könige, Meinem Bruder,
der Mir zugleich vertrauensvoller Freund ist, kann Ich nie hinreichend für
diese Stellung zu ihm dankbar sein. Wir haben schöne, aber auch schwere
Zeiten zusammen durchlebt, die uns aber immer nur enger verbunden haben,
vor allem die jüngsten Jahre, wo Verrat und Irrungen das teure Vaterland
dem Abgrund nahe brachten. Seiner Gnade und seinem Vertrauen danke Ich
es, daß Ich in Deutschland auf seinen Befehl Ordnung und Zucht herstellen
konnte, nachdem er im eignen Lande dies Beispiel gegeben hatte. Alle, die
mit Mir durch Freundschaft und Wohlwollen in Verbindung traten — und ihre
Zahl ist nach Gottes Weisheit nicht gering gewesen —, finden hier Meinen
heißen Dank und zugleich deu letzten Dank für ihre Liebe, mit der sie Mir
begegneten. Viele sind Mir in das Jenseits vorangegangen — wie wird
unser Wiedersehen sein? Allmächtiger! Du kennst Meine Dankbarkeit für
alles, was Mir hienieden Teures und Schmerzliches begegnete! In Deine
Hände befehle Ich Meinen Geist! Amen. Wilhelm.
*) Zur Lektüre geeignet.