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nicht weit davon, darin hatten Böget ihre Nester, und hinter dem Flieder¬
busch am Bach stand ein hölzerner Schuppen mit sechs Bienenstöcken, die
waren voller Bienen. Da sangen und summten die Vögel und Bienen
und machten Musik von morgens früh bis abends spät; es war eine
rechte Freude, das anzuhören. Was aber dem Rosenstrauch ganz be¬
sonders gefallen konnte, das war das blonde Anne-Mariechen, das in dem
kleinen Hause wohnte. Sie Pflegte ihn gerade als wäre er ihr Kindchen.
Morgens, wenn sie frisch gewaschen und glatt gekämmt in den Garten
kam, war das erste, was sie that, daß sie ihren lieben Rosenstock be¬
goß, ihm die Raupen ablas, ihm die vertrockneten Blätter abstreifte, und
wenn irgend eine Brennessel oder sonst ein häßliches Unkraut über Nacht
in seiner Nähe aufgeschossen war, riß sie es aus und warf es über den
Zaun. Dafür schenkte ihr der Rosenstock denn auch, wenn seine Blüte¬
zeit war, die schönsten Knospen. Das sah einmal hübsch aus, wenn Anne-
Mariechen Sonntags, wenn sie zur Kirche ging, sich die Rosen an ihr
himmelblaues Brusttuch steckte; und wenn sie abends im Schatten des
Fliederbusches neben ihrem lieben Rosenstock saß, ihre Liedcrchen sang und
bann wieder ab und zu ihr kleines weißes Näschcn tief, tief in dih. Rosen
hineinsteckte, um sich an ihrem Geruch zu ergötzen, da waren beide, der
Rosenstock und das Anne-Mariechen, so vergnügt und still zufrieden, wie
man. es nur irgend sein kann.
2.
So ging das Ding eine Zeit lang fort, bis einmal ein fremder
Vogel in den Garten geflogen kam; der setzte sich auf den Gartenzaun
und sang dem Rosenstrauch ein nie gehörtes Lied vor. Er erzählte,
wie schön es sei weit fort, außerhalb des Waldes: da stünde ein präch¬
tiges Königsschloß, und neben dem Schlosse wäre ein herrlicher Garten;
in dem Garten wüchsen keine Primeln und kein Thpmian, keine Aurikeln
und kein Lavendel — nein! — da ständen die schönsten Blumen aller
Art, gerade so stolz und schön wie die Fräulein, die in dem Garten
immer herumspazierten, und da rieselte auch nicht nur ein gewöhnlicher
Bach — nein! — hohe Springbrunnen plätscherten dort in marmornen
Becken, und statt der Nachtigallen im Fliederbusch plapperten dort grüne
und rote Papageien in zierlichen Vogelhäusern.
Der Rosenstrauch konnte sich an dem Liede nicht satt hören. „Was
meinst du," fragte er den Vogel, „würde ich in den Garten wohl hinein¬
passen'?"
„Warum denn nicht?" antwortete der Vogel. „Du bist schöner
als viele andere Blumen in der Welt, und außerdem gehörst du auch
gar nicht hierher unter die erbärmlichen Primeln und Levkojen. Da
drüben, da drüben! da gehörst du hin, da ist der rechte Platz für dich!1
Wefing u. de Boer, Lesebuch für Unterstufen. I. 3