Kap. 96. § 430. Die Vorgänge in Italien. 411 
Zerrüttung des türkischen Reichs gebauten Hoffnungen zu verwirklichen im 
stände sei. Es bildeten sich Verschwörungen, in den Hauptstädten (Nau- 
plia, Athen, Patras, Korinth) brachen Aufstände aus, die nicht voll- 
ständig unterdrückt werden konnten. Der König verließ infolge derselben 
sein Land, worauf eine provisorische Regierung eingesetzt wurde (1862). 
Nachdem mehrere Fürsten die angebotene Krone abgelehnt hatten, gelang 
es endlich den Griechen durch Englands Vermittlung in dem 18jährigen 
dänischen Prinzen Georg einen König zu gewinnen (1863), dessen Be¬ 
mühungen der herrschenden Anarchie zu steuern glücklicher gewesen sind als 
die seines Vorgängers. 
Damals willigte Großbritannien ein, daß die ionischen Inseln, welche bis dahm 
unter englischer Schutzherrschast gestanden hatten, mit Griechenland vereinigt wurden. 
Über den Aufstand der Candioten (1867-1868), welche ebenfalls Vereinigung mit 
Griechenland und Losreißung von der türkischen Herrschast anstrebten, s. § 378. Eben¬ 
daselbst ist erzählt, wie durch diesen Aufstand beinahe ein Konflikt der ernstesten Art 
zwischen Griechenland und der Türkei herbeigeführt worden wäre. 
(430.) Italien. Am 8. Dez. 1869 wurde vom Papst Pius IX das 
vatikanische Kirchenkonzil eröffnet, auf welchem durch die Bemühungen 
der Jesuitenpartei das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes 
durchgesetzt wurde (13. Juli 1870). 
Der Lehrsatz lautet: „Es ist göttlich geoffenbartes Dogma, daß der Papst, wenn er 
ex cathedra d. h. in Erfüllung seines höchsten Hirten- und Lehramtes allen Christen 
zufolge seiner apostolischen unb göttlichen Autorität, eine von der ganzen Kirche anzu- 
nehmende Glaubens- oder Sittenlehre verkündet, traft göttlicher Verheißung an den 
heil. Petrus mit derselben Unfehlbarkeit ausgestattet ist, welche der göttliche Er¬ 
löser seiner Kirche verleihen wollte, als er die Glaubens- und Sittenlehre gab. Des¬ 
halb sind die Lehren des römischen Papstes von Natur aus unfehlbar." Da aus die¬ 
sem Dogma praktische Folgerungen auf alle Staatsverhältnisse gezogen werden können, 
so haben sich daraus bereits jetzt gefahrdrohende Konflikte zwischen der angestrebten 
mittelalterlichen Oberherrlichkeit des Papstes und den weltlichen Staatsgewalten (na¬ 
mentlich in Preußen) entwickelt, die neuerdings in dem Kampf der Bischöfe gegen 
die Anordnungen Der Staatsgewalt ihren Ausdruck gefunden haben. 
Wenige Monate nach der Unfehlbarkeitserklärung erfolgte die völlige Auf¬ 
lösung des Kirchenstaats, der mit dem Königreich Itosten (s. § 402) 
vereinigt wurde. Nachdem nämlich Frankreich infolge seines Krieges mit 
Deutschland die schützende Hand vom Rest des Patrimoniums _Petn zu¬ 
rückzuziehen genötigt war (Sept. 1870), rückte ein Heer des Königs Viktor 
Emanuel von Italien unter Cadorna vor die ewige Stadt, welche nach 
einer dreistündigen Beschießung ihre Thore öffnete (20. Sept. 1870). 
In dem darauf vorgenommenen Plebiscit erklärte sich die große Mehr¬ 
heit des römischen Volkes für den Anschluß an Italien,_ Rom wurde zur 
Hauptstadt des neu geeinigten Königreichs Italien erklärt. Der 
lang gehegte Wunsch der Italiener, die völlige Einigung Italiens, war da¬ 
mit erreicht (s. § 402 a. E.). 
Seitdem residierten beide Herrscher in Rom; Viktor Emanuel im Quirinal, Pius IX 
im Vatikan, ohne daß es zu einer Versöhnung gekommen wäre. Beide starben im 
Anfang des Jahres 1878. Auf den ersten König Italiens Viktor Emanuel folgte 
sein Sohn Umberto, während Kardinal Pecci unter dem Namen Leo XIII zum 
Nachfolger Pius' IX gewählt wurde; von einer Annäherung beider ist bisher nichts be¬ 
kannt geworden. 
(431.) In Spanien war die Herrschaft des i. I. 1841 von^den Cortes 
zum Regenten ernannten Espartero (§ 365), der sich des Schutzes von
	        
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