116 
c) Deutsche Sagen. 
71. Herta. 
s war ein liebliches Eiland, im Baltischen Meere gelegen, Eichen, 
so alt wie der Boden, aus dem sie entsprossen, und gewaltige 
Buchen beschatteten es, das nördliche Ende des großen Herzy¬ 
nischen Waldes bildend, der bei den Nordabhängen der Alpen begann 
und sich bis hierher erstreckte. Von bemoosten Hügeln umgeben, lag 
nicht fern vom Rande der Insel im Schatten der Bäume ein klarer, 
fast zirkelrunder See. An seinem nördlichen Ufer erhob sich mit ihren 
hohen Wällen die Hertaburg. Sie war der Sitz der Göttin Herta, 
der Eeberin allen Segens in Feld und Wald. Uralte Buchen bildeten 
rundherum jenen heiligen Hain, dessen Innerstes nur der Fuß des 
Priesters betrat. Tiefe Stille herrschte in dem dupklen Schatten der 
Bäume, und kein Uneingeweihter wagte, das leise Flüstern der Unter¬ 
götter zu unterbrechen. Selbst die kecken Urbewohner des Herzynischen 
Waldes, der gewaltige Ur, das riesige Elen, der heulende Wolf wie der 
grimmige Bär, schienen scheu zurückzubleiben von dem heiligen Orte, 
dem der Mensch nur in tiefster Ehrfurcht sich nahte. 
Wenn aber mit dem wiederkehrenden Lenze die erstarrte Erde 
unter den erwärmenden Strahlen der Sonne erwachte und die 
schlummernden Binder des Frühlings von ihrem langen Winterschlafe 
erstanden, wenn Tausende der befiederten Sänger ihre Lieder erschallen 
ließen zum Lobe der schaffenden Herta: siehe, dann tauchten ganze 
Scharen riesiger Männergestalten aus dem Dunkel der Wälder hervor, 
in stiller Erwartung dem heiligen Haine sich nahend. Welche Männer! 
Kühn blitzt das blaue Auge unter den buschigen Brauen, und lockig 
wallt das blonde Haar herab auf die breiten Schultern. Sieben Fuß 
messend von der Ferse bis zum Scheitel, tragen sie das Zeichen des 
freien Mannes, den breiten Schild und den gewichtigen Speer, in den 
starken Armen. Ja, man sieht es ihnen an, das sind die Herren der 
Wälder, die gewaltigen Helden, welche flüchtigen Laufes den Ur im 
Dickicht ereilen und ihn kämpfend mit dem Speere erlegen. Stolz auf 
solche glücklich bestandenen Kämpfe, tragen sie die Zeichen ihrer Siege 
an ihren: Leibe. Es sind die Häute des erlegten Wildes, mit denen sie 
sich bekleiden. 
Wer sind die Männer? Es sind die Ureinwohner unseres Vater¬ 
landes, die Sueven, und zwar ihre edelsten Stämme, die Sem- 
nonen, die zwischen der Elbe und Oder wohnten, und ihre Nachbarn, 
die kriegerischen Langobarden. Sie und noch andere freie deutsche
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.