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Deutsche Geschichte bis zur Gründung des nationalen Staats 919.
wesentliche Ursache der Völkerwanderung. Dazu kam, daß die höhere Kultur
und die vielfachen Genüsse des römischen Lebens etwas Verlockendes für
viele von ihnen haben mußten. So traten denn zahlreiche Germanen in das
römische Heer ein, das schließlich fast ganz aus Barbaren bestand; oder sie
ließen sich als zinspflichtige Leute auf den Grundstücken römischer Gutsherren
ansiedeln. Ganze Stämme wanderten mit Zustimmung der Behörden ein,
ließen sich Land verleihen und übernahmen die Pflicht, das Reich gegen ihre
eigenen Landsleute zu verteidigen.
Seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts n. Chr. wurden aber auch die
kriegerischen Angriffe immer heftiger. Zu den Zeiten des Kaisers
Mark Aurel (um 170) griffen die Markomannen Jahr für Jahr die
Grenze an. Kurze Zeit später traten die Namen neuer Völker auf, die durch
Völker 'Den Zusammenschluß kleinerer Völkerschaften entstanden waren. Die
Franken saßen am Niederrhein und suchten von dort nach Gallien ein-
zudringen; die Alamannen überschritten den römischen Grenzwall und
eroberten das Zehntland; die Sachsen, welche im heutigen Hannover,
Oldenburg und Westfalen wohnten, machten mit ihren Schiffen die Meere
unsicher und brandschatzten die Küsten. Die Goten endlich verließen ihre
Sitze an der unteren Weichsel, wanderten nach den Küsten des schwarzen
Meeres, und die Römer mußten ihnen die Lande an der unteren Donau
überlassen.
Die Goten sind das erste germanische Volk, unter dem das Christen-
tum Eingang fand, und zwar in der Form, wie es der Kirchenlehrer Arius
Wulfila.gelehrt hatte. Wulfila, der Sohn römischer Kriegsgefangenen, ver-
breitete es bei einem Teile der Goten, deren Bischof er wurde. Er hat auch
die Bibel in das Gotische übersetzt, und diese Bibelübersetzung ist das früheste
Denkmal der deutschen Sprache.
Der Einbruch der Hunnen und die Gründung germanischer Staaten
mif dem Boden des weströmischen Reichs.
§ 9. Hunnen und Goten. Schon mehrere Jahrhunderte dauerte der
Ansturm der Germanen aus das römische Reich, als ein Ereignis eintrat,
welches in seinen Folgen zu einer Überflutung des weströmischen Reiches durch
Hunnen germanische Scharen führte; Im Jahre 375 brachen die Hunnen, ein
375. mongolisches Reitervolk von häßlichem Aussehen und rohen Sitten, das aus
dem mittleren Asien stammte, keinen Ackerbau trieb, sondern sich von Vieh-
zucht ernährte und nomadisch von Ort zu Ort wanderte, über die Wolga in
Europa ein. Sie trafen in Südrußland zuerst auf die Ostgoten, deren
König, der mehr als hundertjährige Ermanarich, sich den Tod gab, und unter-