106 Zweiter Abschnitt. Erster Zeitraum.
getroffen, der ihm ein Kraut gab, Kirkes Zauberstab zu widerstehen. Er riet
dem Odysseus, er solle, wenn die Göttin ihn mit dem Zauberstab berühren
wolle, mit gezücktem Schwerte auf sie eindringen. Odysseus befolgte den Rat.
An der Pforte des Palastes angelangt, wurde Odysseus aufgefordert einzu¬
treten, und Kirke setzte dem Gaste ebenfalls einen Becher Wein vor, der mit
schädlichen Zauberkräutern gemischt war. Odysseus trank ohne Furcht. Als
nun die Göttin mit dem Stabe ihn berührte, riß er das Schwert aus der
Scheide und stürmte auf sie ein. Laut schreiend sank sie dem Helden zu
Füßen, umfaßte die Kniee und sprach: „Wer bist du, o Fremdling, daß du
dem Zaubertranke widerstehest, den noch kein Sterblicher vertrug. Bist du
vielleicht Odysseus, von dessen Ankunft mir Hermes erzählte? Stecke das
Schwert in die Scheide und laß dir's bei mir gefallen." Odysseus traute der
Zauberin nicht eher, bis sie ihm einen feierlichen Eid geleistet hatte, nicht auf
seinen Schaden zu denken. Sie entzauberte rasch die Gefährten des Odysseus
und bewirtete nun alle ein ganzes Jahr in ihrem herrlichen Palaste.
Fahrt in die Unterwelt. Vor seiner Abreise offenbarte Kirke ihrem
lieben Gaste, er müsse, bevor er in die Heimat gelange, noch in die Unter¬
welt hinabsteigen und den blinden Seher Tiresias um seine Fahrt be¬
fragen. Sie zeigte ihm den Weg dahin und belehrte ihn über die Opfer¬
gebräuche , durch welche die Schatten der Toten herbeigelockt werden könnten.
Odysseus that, wie ihm gesagt war. Der Seher Tiresias erschien und
verkündete ihm, wie es ihm weiter ergehen werde, und wie es um sein Haus
stand. Auch seine Mutter, die aus Sehnsucht und Angst um ihn gestorben
war, sprach er, und viele der gefallenen trojanischen Helden begegneten ihm.
Ferner gewahrte er, welche Strafen die Bösen in der Unterwelt erwarten.
Die Sirenen. Nachdem Odysseus dies alles geschaut hatte, kehrte
er zur Oberwelt zurück und fuhr mit günstigen Winden weiter. Jetzt teilte
er seinen Gefährten mit, daß sie bald zu den Sirenen kommen würden,
welche durch ihren melodischen Gesang schon manchen Schiffer bethört und
ins Verderben gestürzt hätten. Um dieser Gefahr zu entgehen, verklebte er
auf Geheiß der Kirke seinen Gefährten die Ohren mit Wachs; sich selbst aber
ließ er Hände und Füße an den Mast binden. Bald vernahm er den be¬
thörenden Gesang der Sirenen: „Komm, ruhmgekrönter Odysseus, steuere hier¬
her und vernimm unsere Stimme. Keiner fuhr noch vorüber, ohne unsern
süßen Gesang gehört zu haben, und dann kehrte er fröhlich und mit höherem
Wissen begabt zurück. Wir wissen alles, was Griechen und Troer erlitten,
wissen, was auf der Erde geschieht!" Jetzt erwachte in Odysseus die Lust,
die Sirenen zu besuchen und ihre Stimme in der Nähe zu hören. Er gebot
seinen Gefährten, ihn los zu binden; allein sie banden ihn nur noch fester
und entrannen so glücklich dem Verderben. Erst nach überstandener Gefahr
lösten sie den Odysseus, welcher ihnen nun das Wachs von den Ohren wieder
abnahm.
Char/bdis und Scylla. Bald vernahmen die Leidensgefährten
des Odysseus das dumpfe Getöse des brausenden Meerstrudels der Eharyb-
dis, und vor Schrecken entfielen ihnen die Ruder. Odysseus sprach ihnen
Mut zu und befahl dem Steuermann, fern von dem Felsen das Schiff
vorbei zu lenken: von der Scylla aber redete er, wie ihm geboten war, nichts.