362 Thüringische Residenzstädte.
erhalten, wie sie für die Litteraturgeschichte keine deutsche Stadt erreicht hat und
wohl auch keine erreichen wird. Wir haben oben von der Wartburg gesprochen und
ihrem Sängerhofe. Wir wüßten nichts, was sich in ähnlicher Weise mit Weimar
und dem Weimarischen Musenhof vergleichen ließe. Aber Weimar ist mehr als
die Wartburg. Auf der Wartburg hat die deutsche Poesie eine Herberge ge-
fünften, in Weimar eine Heimat; auf der Wartburg war die Poesie ein Zierat,
eine Verschönerung des Hoflebens, in Weimar war sie die Königin, der auch die
Fürstlichkeiten rückhaltslos huldigten, und die deshalb das gesamte Weimarische
Leben beherrschte. Darum ist Weimar — und wir rechnen auch die nächste
Umgebung dazu — so ganz und gar erfüllt von den Spuren und Denkmalen,
so durchdrungen von den Erinnerungen jener Zeit. Die Poesie hat das gesamte
Leben ergriffen und auch den äußeren Dingen ihren Stempel aufgedrückt.
Schon anderthalb Jahrhunderte früher hatte sich in Weimar ein Akt voll-
zogen, der als ein Zeichen der Zeit und ihrer Tendenz für die Litteraturgeschichte
nicht unwichtig ist. Im Jahre 1617 wurde auf Veranlassung Teutlebens, des
Erziehers eines weimarischen Prinzen, und unter Beitritt Ernestinischer Herzöge
und anhaltischer Fürsten die „Fruchtbringende Gesellschaft" oder der Palmen-
orden gestiftet. Er sollte hauptsächlich dienen zur Erhaltung deutscher Redlichkeit
und Treue und zur Besserung deutscher Sprache. Die deutsche Sprache war durch
das Eindringen fremder Elemente verunstaltet, eine Verschlechterung deutschen
Sinnes und deutscher Sitte erschien als die Folge davon. Man versuchte von
der Sprache aus gegen alles fremde Unwesen zu wirken. Es war gleichsam eine
ererbte Fürstenpflicht der Ernestiner, die Lutherische Sprache nicht von der
Bühne drängen zu lassen; denn um die Sprache von Luthers Bibelübersetzung
handelte es sich ja. So wurde die Poesie des Palmenordens ein Mittel zu
außer ihr liegenden Zwecken, die, so edel sie waren, doch die Poesie zu einer
arbeitenden Dienerin herabsetzten.
Anders war es mit den Dichtern des 18. Jahrhunderts. Sie wollten die
innere Kraft und Fülle herausgestalten, und wem es mit dem Gestalten nicht
glückte, der schwirrte doch mit in dem allgemeinen Sturme und Drange. Die
großen Dichter aber, Dichter, wie wir sie in Weimar finden, denen die Gestaltung
ihrer Ideale gelang, wirkten, ohne es gewollt zu haben, auf das deutsche Volk
und Volksgemüt: das Schöne weckte das Gute; es war wie ein Segen, den
Gott auf ihre Schöpfungen legte.
Während im Nachbarreiche im Westen der Staat unter furchtbaren Zuckungen
umgestürzt und umgestaltet wurde, erneuerte sich in Deutschland in aller Stille
das geistige Leben, indem es sich an der Hand des Schönen zum Guten führen
ließ, das ja nichts andres ist, als das Schöne auf sittlichem Gebiete. Dieses
schöne Gute oder gute Schöne ist übrigens nicht die griechische Kalokagathie,
sondern es ist die Humanität, als deren Apostel Herder zu betrachten ist. Aber
Herder ist mehr der Theoretiker der Humanität, ihm ist sie eine große Welt-
umfassende Anschauung, während die gleichzeitigen Dichter, wie Lessing, Goethe,
Schiller sie konkret darstellten und ihren Landsleuten wirklich nahe brachten.
Gestalten wie Nathan, Egmont, Posa und Karlos sind solche Humanitäts-
charaktere, aber die ganze Poesie dieser Zeit ist von dem Humanitätsgedanken
durchdrungen und beherrscht, bis im folgenden Jahrhundert der Patriotismus
und als Revers selbst der Volkshaß zu ihrer Geltung kommen. In Goethe