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Donar oder Thor.
Er kommt hinab bis zu Hel, der Todesgöttin, und zu den Nornen, den
Schicksalsgöttinnen, die alle Geheimnisse der Zukunft wissen. Auch zu den
Menschen kommt er oft: in den blauen,
fleckigen Mantel gehüllt, den breitran¬
digen Hut tief über die leere Augen¬
höhle gezogen, so tritt er als Wanderer
in ihre Häuser, lauscht ihren Gesprächen
und prüft ihre Herzen, und er belohnt
die Freundlichen und Gastfreien und
bestraft die Hartherzigen. Er heilt Kranke
durch Zaubersprüche und gibt den Armen.
Vor allem aber ist er Schützer edler und
tapferer Fürsten, und er begeistert die
Sänger zu Heldenliedern und Weisheits¬
sprüchen. Ein altes nordisches Lied faßt
Odins Wirken so zusammen:
„Sieg gibt er den Seinen und Sold
den Siegern,
Wucht der Rede und Witz den
Männern,
Fahrwind den Seglern, den Sängern
Lieder,
Mannheit und Mut dem heiteren
Mann."
H. Donar ober Thor.
Wodan ist der Gott der Helden und Könige; der Gott der Bauern
ist Donar oder Thor. Wild sieht er aus: seine Augen glühen wie
Feuer, feilt roter Bart flattert im Winde, mit eisernem Handschuh hält er
den Hammer, seine furchtbare Waffe, die nach zerschmetterndem Schlage stets
in die Hand des Werfenden zurückfliegt. Von zwei Ziegenböcken wird sein
Wagen gezogen, und wenn die schwerfälligen Räder über die Wolken rollen,
dann sagen die Menschen: „Es donnert!" Die Funken aber, die in schneller
Fahrt von den Rädern abspringen, sind die Blitze. Fährt er im Zorne da¬
hin, so bersten die Berge, und die Erde brennt. Aber er meint es nicht
schlimm: durch seine Blitze hat er den Menschen das Feuer gebracht, mit
seinem Hammer zerschmettert er unfruchtbare Felsen, und durch den Regen
segnet er die Flur, und wenn er vorüber ist, dann grünt es und blüht es
Nach A. Schmidhemmer').
!) Aus Möbius, Deutsche Götter- und Heldensagen, Verlag von A. Köhler, Dresden.